Die Räder des Lebens
mich zu belehren, mir vielleicht sogar Unterricht zu erteilen, um mich von ihrem Standpunkt zu überzeugen und bei unserer Ankunft in Europa im Triumphzug vorführen zu können. Ich habe dieser Möglichkeit zugunsten meines Stolzes entsagt.«
Sie gingen schweigend eine Zeit lang weiter und wechselten am Bug zur gegenüberliegenden Reling. Der Blick nach Osten und Süden war genauso wässerig und düster, wie es schon auf der Backbordseite der Fall gewesen war – nur dort, wo sich die Sonne durch die Wolken kämpfte, fielen einige Lichtstrahlen herab.
»Ich glaube nicht, dass Sie falsch gehandelt haben«, sagte Anneke. »Wie Sie bin ich der Idee treu ergeben. Die Gefederten Masken sehen das Ganze aus einem anderen Blickwinkel. Die Maske Poinsard hat den Ehrgeiz, eines Tages eine solche Position zu bekleiden.« Sie lächelte und verzog ihr Gesicht dann zu einer Grimasse. »Frauen können das in den avebianco , wissen Sie. Sich an die Spitze arbeiten.«
»Als ich als junges Mädchen in Göteborg lebte«, fuhr Anneke fort, »konnte ich jeden Mann in der Stadt mit meinem Degen besiegen, aber es bedeutete nichts. Sie wagten den Kampf mit mir, weil es etwas Neues war, die Klingen mit einem hübschen Ding zu kreuzen. Aber niemand traute sich das ein zweites Mal, und viele behaupteten, es wäre die Mühe nicht wert. Wäre ich ein Mann gewesen, dann hätte ich Fechtmeister für den Vizekönig in Uppsala werden können. Als Frau war ich nur eine peinliche Kuriosität.«
»Daher die avebianco? «
»Die Gefederten Masken, ja.«
Childress schüttelte den Kopf und stieg über eine Rolle Seil. Sie erreichten das Heck und wechselten wieder die Seite. Der großgewachsene Skandinavier folgte ihnen immer noch auf Schritt und Tritt. »Ich hatte uns immer als locker strukturierte Organisation aus Bibliothekaren und Archivaren und einfachen Menschen verstanden. Ich hatte keine Kämpferinnen erwartet und auch keine intriganten Töchter aus gutem Hause.«
»Im Großen und Ganzen haben Sie vermutlich recht.« Anneke blieb an der Heckreling stehen, um auf die brodelnde Spur zu starren, die sie im Meer hinterließen. »Menschen, die ihr Leben den Büchern widmen. Menschen mit gesundem Menschenverstand. Menschen, die sich Gott verschrieben haben. Und sie alle verfolgen ein gemeinsames Ziel. Aber auch wir haben unsere Ecken und Kanten.« Sie drehte sich zu Childress um, und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Angst und Bedürftigkeit. »Wissen Sie, dass ich eine Klaue bin? Eine Klaue darf niemals eine Maske sein. Die Gefederten Masken werden niemals Blut an ihren Händen kleben haben.«
Childress überging die Frage, die sich ihr stellte. Stattdessen sagte sie nur: »Es ist sauberer, meinen Tod mit einem Wort zu befehlen, anstatt ihn mit eigener Hand herbeizuführen.«
»Ja.«
»Anneke …«
»Ja?«
»Für mich sind Sie keine Klaue, und ich werde das auch niemandem erzählen.«
Annekes schiefes Lächeln kehrte zurück. »Danke. Und ich … ich …«
»Ja?«
»Ich … vergessen Sie es.« Damit flüchtete sie und ließ Childress in der Gesellschaft des lachenden Matrosen und einem Paar schmalflügliger weißer Vögel zurück, die dem Schiff gemächlich folgten.
Am nächsten Morgen klopfte ein Seemann an ihre Tür. »Gottesdienst in zehn Minuten auf dem Vorderdeck, Madam.«
»Vielen Dank«, rief sie.
Seit ihrer Auseinandersetzung mit der Maske Poinsard waren im Laufe der Tage verschiedene Kleidungsstücke in ihrer Kabine aufgetaucht. Darunter befand sich nichts, das ihr besonders gut passte oder gefiel, aber sie schaffte es, sich ein Samtkleid mit hohem Kragen ohne zu viel Aufwand anzuziehen.
Als Childress auf den Korridor hinaustrat, wartete die Maske Poinsard auf sie.
Heute trug die Frau ein cremefarbenes Kostüm von etwa demselbem Schnitt, den Childress beim letzten Mal an ihr gesehen hatte. Die Bluse war hellblau, wie auch ihre Stiefeletten mit Seitenverschluss und ihr breitkrempiger Hut. Kurz gesagt hatte sich die Maske Poinsard für einen netten Tag in der Stadt hübsch gemacht, weniger für einen Morgengottesdienst an Bord eines Schiffs – und das im Nieselregen.
»Madam.« Childress entschloss sich, höflich und vorsichtig zu sein.
»Ich war mir nicht sicher, ob Sie den Anstand besitzen, am Gottesdienst teilzunehmen.«
Childress konnte gerne wieder am Spiel teilnehmen. Jahrzehnte universitärer Machtkämpfe hatten sie auf diese Art spitzer Bemerkung bestens vorbereitet. »Ihre Unsicherheit ist für mich keine
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