Die Räder des Lebens
Mannschaft immer aus Griechen oder Arabern oder Portugiesen. Aber nicht in diesem Fall.
Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War jeder hier an Bord ein weißer Vogel? Der Name des Schiffs ließ das vermuten. Tatsächlich war es eine geradezu lächerliche Anspielung und würde die Aufmerksamkeit eines jeden Beobachters auf den wahren Hintergrund des Schiffs und seine Mission lenken, der auch nur ansatzweise die Hinweise zu deuten verstand.
»Neunmalklug« , so hatte sie auch viele der Studenten bezeichnet, die im Lauf der Jahre an ihrem Stehpult vorbeigekommen waren.
Childress kam schließlich zu dem Ergebnis, dass die Matrosen zum großen Teil weiße Vögel sein mussten, denn sie bemerkte, dass sie sie genauestens beobachteten. Der typische Seemann hätte sich wohl kaum für ihr Kommen und Gehen interessiert, solange sie ihn nicht bei der Arbeit behinderte. Aber hier, wo Anneke sie wie die Erinnerung an eine vergangene Affäre verfolgte, gab es immer einen Mann, der in ihrer Nähe wie zufällig ein Seil aufwickelte oder die Reling polierte.
Einige lächelten, andere nicht, aber sie ließen sie niemals aus den Augen. Hatten sie Angst vor ihr oder Angst um sie? Das hing vermutlich davon ab, ob sie schon das Vergnügen gehabt hatten, die Maske Poinsard kennenzulernen. Diese Frau konnte mit einem Blick die Hölle gefrieren lassen.
Doch bis dahin spazierte sie allein. Zu Beginn passte das nur zu gut zu ihrer Stimmung. Aber nach einigen Tagen begann dieses Spiel sie zu langweilen, und sie wünschte sich erneut, wenigstens ein Minimum an menschlichem Kontakt zu pflegen.
Childress entschloss sich, es zuerst mit Anneke zu versuchen.
Sie ging an der Backbordreling entlang und sah zu einem grauen Himmel hinauf, der Regen versprach. Die düsteren Kiefernwälder der Küste hatten sie am gestrigen Tag hinter sich gelassen, und nun waren sie auf allen Seiten vom Meer umgeben. Die Mute Swan hatte einen Kurs Richtung Ostnordosten eingeschlagen. Es drohte ihnen kein ausgewachsener Sturm, sondern ein Anschwellen der Wassermassen – es würde ein Regenfall sein, bei dem es zwischen Luft und Meer zu einem wahrlich fließenden Übergang kam. Derartiges vom Hafen in New Haven zu betrachten, hatte ihr immer gefallen, doch hier im Nordatlantik war der Ausblick ein ganz anderer.
Wenigstens war es kein Nordoststurm, bei dem die Wellen so hoch schlugen, dass sie die Kapitänskajüte überspülten. Sie hatte in New Haven davon gehört, auch wenn es sich um die Art Geschichte handelte, die die Männer sich nur halblaut gegenseitig erzählten, um zu verstummen, wenn eine Frau sich näherte.
Es sah finster aus, ähnlich wie ihre Stimmung, und der Matrose zu ihrer Rechten war ein großgewachsener Skandinavier, der nach ihrer bisherigen Erfahrung seine Schwierigkeiten mit dem Englischen hatte. Es würde vermutlich keine bessere Gelegenheit geben, sich mit ihrer Gouvernante zu unterhalten.
In einer fließenden Bewegung drehte sich Childress auf dem Absatz um und ging auf Anneke zu, die ihr nur fünf oder sechs Schritte entfernt folgte. Ihre Begleiterin sah sie aus ihren grünen Augen kurz überrascht an.
»Sie mögen meine Wächterin sein«, sagte Childress in ihrem freundlichsten Tonfall. »Aber keine von uns dient der anderen.« Sie reichte ihr ihren Arm. »Gehen wir ein wenig spazieren?«
Anneke trat vor und hakte sich bei ihr unter. Sie gingen nun gemeinsam weiter, begleitet vom feisten Grinsen des skandinavischen Burschen. Childress war leicht überrascht, dass Anneke sofort das Wort ergriff. »Sie haben die Maske Poinsard sehr verunsichert. Sie schreibt den ganzen Tag über Nachrichten in ihrer Kabine und zerreißt sie, nur um die Schnipsel ins Meer zu werfen.«
»Die Maske Poinsard kann sich gerne ihrer Verunsicherung hingeben. Ich bin diejenige, die in die Hände unserer Feinde übergeben wird, und das ohne wirklichen Grund.« Sie hielt inne und versuchte, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die sie sich vorgenommen hatte. »Ich bitte Sie um Entschuldigung, Anneke. Ich hatte nicht vorgehabt, Ihnen meine Beschwerden vorzutragen.«
»Was wollten Sie denn?« Anneke hauchte die Frage fast.
»Ich bin hier sehr einsam.« Childress wusste, dass sie nun sehr leise sprach, und ihren Stolz hinunterschlucken musste. »Ich habe allein gelebt, seitdem meine Mutter tot ist, aber ich bin seit vielen Jahren sechs Tage in der Woche in der Bibliothek gewesen und am siebten in der Kirche. Ich glaube, dass die Maske Poinsard vorhatte,
Weitere Kostenlose Bücher