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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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begnügen oder sogar Helme tragen, die den halben Kopf bedeckten. Nur die Herrschenden schienen ihre Köpfe ungehindert bewegen zu dürfen.
    Als die Frau Paolinas Kammer mit ihren regennassen Fenstern betrat, verbeugte sie sich nicht und wendete auch nicht ihren Kopf ab, sondern sagte einfach: »Ich bin Karindira. Stirbst du?«
    »Ich glaube nicht.« Paolina war fasziniert davon, sich wieder in das Gespräch einzufinden, als ob keinerlei Zeit vergangen wäre.
    »Du trägst einen Schimmer.« Der starre Blick der Frau aus ihren schwarzen Augen richtete sich kurz auf die Taschenuhr in ihrer Hand.
    »Das ist wahr.« Paolina hatte sich gefragt, was sie in diesem Augenblick tun sollte. Der Mechanismus hatte ihr den Zugang zu diesem Palast verschafft und diese seltsamen, gedrungenen Menschen dazu gebracht, sich um sie zu kümmern. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr auch helfen würde, diesen Ort ohne Schwierigkeiten zu verlassen. Vermutlich nur dann, wenn sie mit ihm auch etwas anfangen konnte.
    »Zeig es mir, jetzt, wo du lebst.«
    Paolina richtete sich in ihrem zu kurz geratenen Bett ein wenig auf und lehnte sich gegen die Kissen an ihrem Kopf. Sie öffnete ihre Hand, und das durchsichtige Ziffernblatt zeigte nach oben. Die Frau rührte sich nicht, sondern starrte das Ding nur an. Paolina zog solange am Aufzugsmechanismus, bis sie in der Lage war, den Zeiger zurückzusetzen, der die Zeit bestimmte, die die Grundlage aller Existenz darstellte. »Siehst du das? Bist du sicher, dass ich sie verändern soll?«
    »Nein«, sagte Karindira langsam und blinzelte langsam. »Steck es weg. Ich weiß, um was es sich handelt. Du trägst den Schimmer. Das reicht mir.«
    Paolina schloss die Finger um ihre Schöpfung und hielt sie fest.
    »Es gab noch einen zweiten«, sagte die Frau. »Vor zwei Jahren, als der Boden bebte, wurde ein weiterer Schimmer über die Mauer gebracht. Wir haben ihn nie gesehen.«
    Obwohl sich zwischen ihnen die Abgründe ganzer Welten auftaten, konnte Paolina aus ihrem Tonfall dennoch Verzweiflung heraushören. »Warum müsst ihr den Schimmer sehen?«
    »Um zu verstehen.« Karindira sah für einen Augenblick zur Seite. »Wir sind eine Stadt der Frauen. Seit mehr als tausend Jahren wurde hier kein Mann mehr geboren oder erzogen. Sie haben uns damals verlassen, um einem Schimmer zu folgen. Wir waren gezwungen, Mädchengelege in Erinnerung an unsere Mütter anzulegen. Wir haben seitdem stets nach einem Schimmer gesucht. Vielleicht wird es sie zurückbringen. Ich fürchte, dass die Welt abläuft.«
    »Das solltest du auch«, murmelte sie. »Ich stamme aus einem Dorf der Männer. Sie sind grobe und dumme Rüpel, die sich für die Herren einer jeden Frau halten, und ihre Ohren sind nur Dekoration für ihre ständig offenstehenden Münder.«
    »Das macht nichts.« Karindira schien sich zu beruhigen. »Wir haben im Lauf der Jahrhunderte unseren eigenen Weg gefunden. Du trägst seit damals den ersten Schimmer, der unsere Tore erreicht. Die Versuchung ist … groß.«
    »Ich habe den Schimmer von meinen eigenen Toren fortgetragen.« Paolina packte die Taschenuhr noch fester. »Ich bin auf der Suche nach den englischen Zauberern, die die wahre Ordnung der Welt verstehen.«
    Die Frau spuckte auf den Fußboden, eine Geste, die ihrem bisherigen, wohlgesitteten Verhalten widersprach. »Engländer. Sie fressen Hunde und vergnügen sich mit Affen. Sie würden den Himmel auf uns herabstürzen lassen, nur um ihre Neugier zu befriedigen.«
    »Und dennoch sprichst du ihre Sprache …«
    »Einige von uns müssen das, damit wir an der Mauer Handel treiben können. Dies ist nicht die Sprache meines eigenen Geleges.«
    » Nem mina «, sagte Paolina auf Portugiesisch. Dann sprach sie auf Englisch weiter: »Aber es ist zur Sprache der neuen Weltordnung geworden.«
    Die Frau lächelte, was angesichts ihrer verfärbten, dreieckigen Zähne kein angenehmer Anblick war. »Wir können uns in der Sprache dieser Flachlandbarbaren gegenseitig beschimpfen. Du brauchst noch mindestens eine Woche, vielleicht mehr, um dich vollständig zu erholen. Ich biete dir bis dahin unsere Gastfreundschaft an.«
    »Ich werde mich sobald wie möglich auf den Weg machen«, sagte Paolina höflich.
    »Wenn du dich wieder gesund fühlst«, sagte Karindira, »werde ich dir etwas zeigen.« Sie setzte sich auf Paolinas Bettrand. »Bis dahin … Wirst du mir etwas von Männern erzählen?«
    Neun Tage später führte Karindira Paolina eine Treppe im Herzen ihres Palasts

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