Die Räder des Lebens
waren.
Hätte sie Angst vor Geistern gehabt, so wäre dies ein Furcht erregender Ort für sie gewesen. Doch da das nicht der Fall war, machte sie sich ein warmes und gemütliches Nest im Unterholz zurecht und legte sich schlafen. Insgeheim fragte sie sich, was mit ihr geschehen wäre, wenn sie Karindiras Messingwagen benutzt hätte. Wäre sie jetzt schon bei den Engländern, um deren Desserts zu essen, ihre Biere zu trinken und die wahren Geheimnisse der Welt zu enträtseln?
Das Bild ihres grinsenden Totenschädels, der unaufhörlich durch die Tunnel unter der Welt reiste, ließ diese Fantasterei wie eine Seifenblase zerplatzen. Paolina seufzte und kuschelte sich in ihr Nest, um sich vor den Motten zu verstecken, die allem Anschein nach bei ihren Tänzen im Mondlicht versuchten, ihre Haut zu streicheln.
Und so wanderte sie weiter, Woche um Woche. Sie begann zu verstehen, warum Clarence Davies zwei Jahre lang für seinen Weg gebraucht hatte. Jeder Tag war wie der vorherige, auch wenn sich der Pfad wandelte und das Wetter wechselte und die Wesen, die sich auf den Hängen über ihr brüllend zeigten, in ihrer Größe veränderten.
Ihr Vertrauen in ihre Erfindung wuchs mit jedem Tag, denn der Schimmer erwies sich stets als Passierschein. Vielleicht hatte Clarence Davies’ Taschenuhr auf seinem Weg dieselbe Funktion übernommen – sie wusste es nicht. Die Wesen in ihrer Nähe wichen ihr nach Möglichkeit aus.
Sie versuchte regelmäßig, den Schimmer etwas tun zu lassen, egal was. Wenn sie erneut gefragt würde, dann wollte Paolina nicht wieder unwissend scheinen, wie es bei Karindira der Fall gewesen war. Doch weder konnte sie eine Blume dazu bringen, Früchte zu tragen noch einen Bach in seinem Lauf aufhalten – wie sollte sie dann den Lauf der Sonne am Himmel beeinflussen können?
Nach einiger Zeit gelangte sie in ein Land aus Mauern, die sich zu liebevoll gestalteten und verworrenen, kniehohen Labyrinthen zusammenfanden. Es schien ihr, als ob deren Größe auf Murmeltiere oder Igel ausgerichtet war. Es gab keinerlei Hinweise auf eine ordnende Struktur, nichts als kleine Mauern auf mehreren Kilometern Länge in einem nicht enden wollenden Labyrinth, über das Paolina mit großen Schritten hinüberstieg.
Sie entdeckte auch Knochen, die so gigantisch waren, dass sie unmöglich existieren konnten. Ein Rippenbogen von fast hundert Metern Länge konnte nur ein Scherz Gottes sein, um die Leichtgläubigen in Versuchung zu führen. Zumindest redete sich Paolina das ein, vor allem dann, als sie eine Blumenwiese durchquerte, deren glänzende, breitblättrige Pflanzen mit hellvioletten Blüten lockten. Sie kam dabei an einem Kinnfragment vorbei, dessen Zähne größer waren als sie selbst.
Eines Morgens hatte Paolina auf der Spitze eines Felsvorsprungs ihr Lager aufgeschlagen, von dem aus sie das schillernde Messing auf a Muralha in der Ferne zu erblicken vermochte. Sie sah, wie die nahenden Sonnenstrahlen das Messing funkeln und aufblitzen ließen und für einige Sekunden eine zweite Sonne heraufbeschworen, bis das Tagesgestirn sich selbst zeigte.
Sie ging weiter und vergaß die Zeit, die ihre Reise schon in Anspruch genommen hatte, und tauchte in das komplexe Wesen von a Muralha ein. Sie entwickelte die Theorie, dass die Mauer die wahre Absicht der Schöpfung sei, während Erde und Sonne nur existierten, um dieses Ding zu ermöglichen. Gott hatte eine senkrechte Leinwand erschaffen, auf der er Seine Experimente mit kräftigem Pinselstrich oder feinen Akzenten umsetzte. Bestanden zwischen ihr und Karindiras Volk nicht Ähnlichkeiten? Vielleicht war das vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Hunden und Katzen.
Paolina ließ den Schimmer nicht aus der Hand. Sie sah zu, wie die Zeiger sich zitternd auf dem Ziffernblatt voranbewegten – die Grundlage aller Existenz, das Vergehen der Zeit, der Rhythmus ihres eigenen Herzens. Der vierte Zeiger hatte sich ihr bis heute nicht erschlossen. Was hatte sie damit bezweckt, wofür war er gedacht? Sie konnte sich nicht mehr richtig erinnern. Was immer sie auch versuchte, es gelang ihr nicht, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Sie würde einen Zauberer brauchen, einen englischen Hexenmeister vielleicht, um sie auf den richtigen Weg zu bringen.
Und dann, eines Tages, traf sie den Messingmann.
Ihr Weg kreuzte einen anderen, der bergauf führte, und dort stand er, mitten auf dem Weg. Sie hätte ihn fast für eine Statue gehalten, aber der Fels unter seinen Füßen war blank
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