Die Räder des Lebens
ihr Leben beendete. Das war nicht das Opfer, das sich die Maske Poinsard oder ihre Meister für sie erdacht hatten. Diese Änderung ihres Plans erfüllte sie mit boshafter Zufriedenheit, aber das konnte den bedauernswerten Tod des lachenden Skandinaviers, Kapitän Eckhuysens und seiner Mannschaft aus avebiancos nicht wiedergutmachen.
Weitere Matrosen kletterten über die Reling und brachten rote Kanister und mehrere Rollen blassgrauen Seils mit sich. Ein gedrungener Mann, der nichts außer seiner Würde mit sich trug, folgte ihnen. Er wandte sich an Childress.
Wie der Rest seiner Mannschaft war auch er Chinese. Er war auch zweifelsohne ihr Kapitän. Seine Wachen nahmen Haltung an, sobald er sich näherte, und setzten vornehme, ausdruckslose Mienen auf. Seine Rolle erkannte man aber auch daran, wie entschlossen sein Gang war, und an seiner perfekten Haltung sowie der Neugier in seinem Gesicht.
Matrosen, das hatte sie an Bord der Mute Swan gelernt, stellten keine Fragen. Die Offiziere machten das zuweilen.
Der chinesische Kapitän näherte sich und ging vor ihr in die Hocke, bis sich ihre Blicke trafen. Er hatte ihr Fragen zu stellen, das konnte sie aus seinem ihr so unvertraut flach gedrückten Gesicht ablesen. Er verzog keine Miene, während er sie betrachtete.
»Anneke ist tot.« Childress zeigte auf die Leiche neben ihr, auch wenn es sinnlos war.
»Ich bitte tausendfach um Entschuldigung.« Sein Englisch war perfekt. »Wenn ich darüber informiert gewesen wäre, dass Sie sie schätzten, dann wäre sie verschont geblieben.«
Vor einem Splitter kann man sich wohl kaum schützen, dachte Childress. Eine so seltsame Art zu sterben. Tief in ihr, in ihrem Kopf, schrie und tobte und weinte etwas, aber ein ruhiger, übelerregender innerer Frieden war über sie gekommen und hatte sich ihres Munds bemächtigt.
»Sind Sie soweit?«, fragte er.
Sie musste auch weiterhin die Ruhe bewahren. »Natürlich bin ich das«, log sie.
»Gut. Wir müssen bald aufbrechen.« Der chinesische Kapitän wippte kurz vor und zurück. »Brauchen Sie etwas Unwiederfindbares von diesem Schiff?«
»Unwiederfindbares? Sie meinen sicherlich unersetzlich.«
Er wirkte nachdenklich. »Ah. Ja, genau. Unersetzlich.«
»Nein …« Childress fragte sich immer noch, was dieser mörderische Chinese mit ihr vorhatte.
»Ersatz, nicht wiederfinden.«
»Ja.«
Er stand auf und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie und stand ebenfalls auf. Er brachte sie an einen Punkt an der Reling, wo ein Seil festgemacht worden war. Von dort aus stiegen sie in die schäumende, schwere Dünung hinab in ein kleines, von Wellen umhergeschütteltes Boot, das mit zwei Matrosen bemannt war. Sie starrten mit ihren ausdruckslosen, goldgelben Gesichtern zu ihr hinauf.
»Würde die Maske freundlicherweise vorangehen?«, sagte der Kapitän sanft.
»Die Maske –«, fing sie an, hielt dann aber inne, weil die Erkenntnis sie wie ein Schlag ins Gesicht traf.
Es war zu viel. Sie konnte das in ihr aufkommende Lachen nicht mehr zurückhalten. Sie war nicht aus einem bestimmten Grund verschont worden. Ihr Leben war in diesem Augenblick nichts anderes als ein einziger Irrtum. Wenn sie Poinsard entdeckten, würden die Chinesen ihr eine Kugel in den Kopf jagen, wie bei allen anderen Männern von Eckhuysens Besatzung.
Der Regen, die Tränen, der Schmerz und ihre Angst verbanden sich und ließen ihr Lachen zu einem plötzlichen, heftigen Würgen werden. Ihre Gedanken, ihre Gefühle wurden in diesem Augenblick unter widerwärtigem Erbrochenen verborgen, mit dem sie den Kapitän überzog.
Er sagte mit ruhiger Stimme etwas auf Chinesisch, half ihr dann über die Reling und die regennasse Sturmleiter hinunter.
Das Boot wurde in der schweren Dünung hin- und hergeworfen, während die Matrosen sich in die Riemen legten. Die schäumende Gischt wurde immer schlimmer, denn das Wetter verschlechterte sich zusehends. Childress merkte, dass sie die Details der Welt um sie herum erneut wahrnehmen konnte.
Das Ende der Welt war noch nicht gekommen. Nicht für sie.
Sie sah den Kapitän an, der ihr gegenüber achtern saß. Er pflückte ihr Erbrochenes in aller Ruhe von seiner Uniform, die aus schwerer Seide bestand und in einem dunkleren Blau gehalten war als die grobe Baumwolle der einfachen Matrosen. Kleine Schließen befanden sich an den Stellen, wo sie bei einem englischen Offizier Messingknöpfe erwartet hätte. Da seine Brust schrecklich verschmiert war, konnte man es nicht genau erkennen,
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