Die Räder des Lebens
würde ihr Fehlen vermutlich nicht einmal bemerken. Sie war einfach nur eine von diesen alternden Frauen, die den falschen Weg eingeschlagen hatten und ihr Dasein ohne Mann oder Familie fristeten.
Was Königin und Vaterland betraf, so hatte Childress’ Leben in New Haven sie zu einer treuen Britin gemacht. Sie würde sehr gerne dorthin zurückkehren, aber ihr Patriotismus war nicht so ausgeprägt, wie es einige in der Öffentlichkeit für sich beanspruchten.
Was ihr nur noch die avebianco übrig ließ, die sich letzthin dazu entschlossen hatten, sie dem Schweigsamen Orden als Opfer darzubieten.
Tränen, die Childress völlig überraschten, strömten ihr die Wangen hinab. Wofür hatte sie gelebt? Was hatte sie zum Sinn und Zweck ihres Daseins erkoren? Sie legte sich in die schmale Koje, drückte ihr Gesicht in die grobe Wolldecke und ließ Tränen freien Lauf, die sie seit Jahrzehnten unterdrückt hatte.
Später wachte Childress auf, wie aus einem wirren Traum. Das Unterseeboot hatte aufgehört zu rollen. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Ihr Kopf litt noch unter dem Zorn und dem Druck vergossener Tränen, aber er schien wieder klar zu sein.
Dass sie noch lebte, war ein Wunder. Kein Zeichen Gottes, denn Childress hielt den Schöpfer nicht dafür verantwortlich, sich in Seine Welt einzumischen, aber zumindest erschien es ihr als Segen, den ihr das Rad des Schicksals erteilt hatte.
Sie entdeckte einen kleinen Metallspiegel und sah nach, was mit ihrem Gesicht geschehen war. Obwohl die glänzende Oberfläche kaum als Spiegel bezeichnet werden konnte, war der Anblick wenig ermutigend. Der Kampf hatte seine Spuren hinterlassen; Blutergüsse, von denen sie nicht wusste, wie sie entstanden waren. Mehrere verschorfte Stellen zogen sich über die Stirn. Hatte einer der Splitter, die Anneke das Leben gekostet hatten, sie um Haaresbreite verfehlt?
Childress wusste, dass sie diesen Chinesen nichts schuldete, außer ihrem Leben. Selbst diese Schuld war nur erzwungen, um sie gefügiger zu machen. Doch wenn sie keine Würde ausstrahlte, konnte sie ihnen nicht gegenübertreten. Sie würden sie niemals für die Maske Poinsard halten, wenn sie nicht die Haltung und die Macht einer Maske annähme. Er würde ihr niemals glauben.
Das hier hat nichts mit dem Kapitän zu tun, wies sich Childress deutlich zurecht.
Sie machte sich daran, ihr Aussehen so gut es ging aufzufrischen, auch wenn ihre Möglichkeiten begrenzt waren. Unter dem Spiegel standen mehrere Gefäße, die Puder und Einreibemittel enthielten. Das waren nicht die Farbtöpfe einer Schauspielerin, auch nicht die Urnen eines Apothekers, aber Dinge, die sich auf halbem Wege trafen.
Sie experimentierte solange, bis sie die richtige Mischung aus kühlender Glätte und schmerzlinderndem Kribbeln erhielt. Es handelte sich um ein hellgrünes Zeug, das ihrer Haut eine merkwürdige Färbung verlieh, aber der Balsam linderte ihre Schmerzen an Schnitten und Blutergüssen und glättete ihr so fremd wirkendes, verletztes Gesicht.
Nachdem sie die Salbe vernünftig aufgetragen hatte, untersuchte sie den Rest ihrer winzigen Kabine. Sie stellte fest, dass es sich um die Kapitänskajüte handeln musste. Hinter der Tür hingen zwei Seidenjacken, die der glichen, die er draußen auf dem Ozean getragen hatte. Sie befühlte sie vorsichtig. Gute Qualität, genauso gut, wenn nicht sogar besser, als alle Stoffballen, die in New Haven je zum Verkauf angeboten worden waren. Nicht, dass sie sich jemals einen so kostbaren Stoff wie diesen hätte leisten können.
Die Seide war mit einem Kranichmuster versehen. Die Vögel zogen unter dem Mondlicht dahin und wiederholten sich auf dem gesamten Stoff in kleinen, kreisrunden Darstellungen. Wenn er seine Uniformjacke trug, würde er wahre Schönheit tragen. Ein subtiler, nahezu unmerklicher Hinweis auf Anmut innerhalb des dröhnenden Unterwassergefährts, innerhalb dessen metallener Hülle der Tod lauerte, aber ein Fingerzeig, der Bände über die Abgründe hinter diesen schwarzen Augen sprach.
Childress setzte ihre Untersuchung fort und entdeckte ein Paar Lederstiefel unter der Koje, die vermutlich beim Landgang zum Einsatz kamen. In einer bescheidenen Truhe, die sie schnell wieder schloss, fand sie Unterwäsche. Was ein Mann unter seinen Hosen trug, ging sie nichts an. Auf drei kleinen Kalotypien war ein älteres Ehepaar zu erkennen, vermutlich seine Eltern, und ein Mädchen in dem Alter zwischen kindlicher Freude und den ernsteren
Weitere Kostenlose Bücher