Die Räder des Lebens
die Obrigkeit. Ist dieser Rat der Ältesten unter euch, die alle Messing heißen?«
»Die Obrigkeit … ist die Obrigkeit.«
Die Frage schien ihm solches Unbehagen zu bereiten, dass sie es dabei bewenden ließ.
Schließlich führte sie der Weg auf einen höher gelegenen, breiteren Felsvorsprung jenseits des Landes der zerbröckelnden Felsen. Die Wolken unter ihnen lichteten sich, und der Weg führte über eine große Wiese.
Die Fläche war groß genug, um das gesamte Gebiet Praia Novas darin unterzubringen. Sie wurde von einem Gebäude dominiert, unter dessen hohem Dach leere, von einem Brand geschwärzte Fenster zu sehen waren. Das gewaltige Bauwerk hätte wohl auch zu Karindiras Stadt gepasst, aber mit Gewissheit ließ sich das nicht bestimmen, da die meisten Säulen zu Boden gefallen und die Türstürze zerbrochen waren. Eine große Ausbuchtung in a Muralha erhob sich im Hintergrund, wo die Mauer aufgrund einer längst vergangenen Katastrophe vor dem Meer zurückgewichen war. Riesige Wälder waren dort zu sehen, Wiesen, Wasserfälle, Klippen. Oder vielleicht war es auch einfach nur ein einziger Wald, der in seiner Größe den wahren Vorstellungen der Schöpfung entsprach. Sie konnte es nicht sagen.
Paolina stand einfach nur da und sah sich erstaunt um.
Messing wirkte nervös. »Hier steht die Waffenkammer des Westlichsten Friedens. Sie beschützt den Weg in das Salomonische Königreich von Ophir in seiner Pracht unterhalb der Mauer.«
Paolina ging an Messing vorbei. Auf dem Platz vor dem Gebäude wuchs Unkraut zwischen den Steinen, und das war in vielen Fällen größer als sie selbst. Was immer der Waffenkammer zugestoßen war, es war vor langer Zeit geschehen. »Seit Generationen nicht mehr«, sagte sie zu ihm. »Wie lange hast du die Grenze bewacht?«
»Ich weiß es nicht. Welches Jahr haben wir?«
Sie wandte sich ihm zu und musterte sein schönes, erstarrtes Gesicht. »1902 nach christlicher Zeitrechnung.«
»Das ist nicht möglich.« Ihre Aussage schien ihn schwer getroffen zu haben. »Ich habe mich 5363 zur Waffenkammer in Tishrei aufgemacht. Ich habe hier gedient seit … seit …« Er hielt inne. »Ich weiß es nicht.«
Also hieß der Ort hier Tishrei, aber sollte 5363 tatsächlich eine Jahreszahl sein? Es ergab keinen Sinn. »Wie kann deinesgleichen vergessen?«
»Das können wir nicht.« Messing begann in kleinen Kreisen zu gehen, während eins seiner Beine bei jedem Schritt zuckte. »Wir sind nicht in der Lage zu vergessen. Jede Erinnerung wird mittels kleiner Getriebe und Electronenröhren tief in meinem Kopf aufgezeichnet. Dann wird die Erinnerung in Kristallen gespeichert, die nahezu unzerstörbar sind. Wenn ein Messing sehr alt ist, wird man ihm möglicherweise die Kristalle austauschen. Dadurch werden einige seiner Erinnerungen in den Bibliotheken des Palasts der Obrigkeit aufbewahrt. Und dennoch bleiben sie stets seine Gedanken, seine Handlungen, seine Erinnerungen.« Er schien fast zu stottern. »Ich – ich kann nicht vergessen.«
Es war deutlich, dass sich Messing auf dem Weg in das mechanische Gegenstück zur menschlichen Verzweiflung befand. Sie bedauerte ihn dafür, aber sie benötigte seine Kraft und sein Wissen über die Welt entlang a Muralha .
»Aber das hast du.« Paolina versuchte, ihre Stimme vernünftig klingen zu lassen und ihn mit ihren Worten zu erreichen. »Die Zeit schlägt in deinem Herzen, aber dennoch hast du sie vergessen. Dein Wissen über die Zeitrechnung ist falsch. Du erinnerst dich an die Waffenkammer des Westlichen Friedens als mächtige Trutzburg, aber sie ist schon vor vielen Jahren zerfallen. Du erinnerst dich nicht daran, an die Grenze entsandt worden zu sein, wo ich auf dich getroffen bin.«
»Das ist wahr«, gab er zu und hörte auf, hektisch im Kreis zu laufen. Seine Gliedmaßen zitterten. Er verwandelte sich wieder in das leblose Objekt, das er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen gewesen war.
Paolina musste ihn aufrütteln. »Dann hast du vergessen. Das zu akzeptieren, verlangt der Verstand. Vielleicht hat sich jemand an deinen Kristallen oder Electronenröhren zu schaffen gemacht. Vielleicht wurden deine Erinnerungen gestohlen oder von der Obrigkeit für ihre eigenen Zwecke entfernt. Deine Gedanken könnten vielleicht jetzt schon in den Bibliotheken beheimatet sein, in elegischer Nachbarschaft mit den mächtigen Heldentaten der Ältesten.« Sie senkte ihre Stimme in der Hoffnung, dass er ihr glauben würde. »Alles, was du tun kannst, ist, den
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