Die Räder des Lebens
nicht offensichtlich gewesen war, bis er es ausgesprochen hatte. »Wir werden alle durch den Herzschlag der Welt bemessen. Wir können daher alle in Zahlen aufgelöst werden. In jedem Zahlensystem gibt es Dinge, die nicht gezählt werden können.«
»Wörter, die nicht ausgesprochen werden können.«
»Wie könnte ich dein Wort erfahren?« Sie betrachtete sein Gesicht, das so wunderschön und zugleich seltsam war – erstarrt in dem Augenblick, als es gegossen wurde. »Ich könnte den ganzen Tag Englisch und Portugiesisch und Spanisch sprechen, aber ich glaube nicht, dass dein Wort so einfach ist wie ›skizzieren‹, ›Kodizill‹ oder ›polykratisch.‹ Ich könnte mir den Mund fusslig reden und es immer noch nicht entdecken.« Paolina streckte einen Finger nach der Lippe des Messingmanns aus. »Du musst mir das Wort zeigen, durch ein Zeichen oder eine Handlung oder mit Hilfe der Logik, und dann werde ich es für dich aussprechen.«
»Aber das Wort ist mir unbekannt«, protestierte er.
Sie lachte. Er war ein solcher Junge. »Dann bringe mich zur Obrigkeit, und wir werden herausfinden, was wir auf dem Weg erreichen können.«
Der Messingmann drehte sich praktisch auf der Stelle, wobei seine Füße leise klapperten. »Die Obrigkeit liegt im Osten.«
»Wie das Glück es so will, muss auch ich nach Osten.«
»Ich werde gezwungen sein, dich am Ende zu erschlagen.«
»Selbstverständlich«, sagte sie freudestrahlend.
Er ging voran, und das in einem Tempo, das sie zum Laufen gezwungen hätte.
Paolina machte das nichts. Sie würde gehen, wie ihr es gefiel. Entweder würde er sein bisheriges Tempo beibehalten und sie bald hinter sich lassen, oder er würde anhalten und auf sie warten. Sie würde ihm auf gar keinen Fall hinterherhecheln, wie die Hunde in Praia Nova den Jungen hinterhergerannt waren.
Als die Abenddämmerung nahte und sie am Wegesrand nach einem Platz suchte, der für das Nachtlager geeignet schien, sah sie, wie der Messingmann neben einem Steinhaufen stand.
»Ich habe die großen Katzen aus ihrer Höhle gelockt und in die Irre geführt, damit wir an diesem Ort in der Nacht verweilen können.« Er deutete in die entsprechende Richtung.
»All das«, sagte sie, »und ich habe noch nicht einmal das Wort gesagt. Du scheinst deiner Bestimmung mit Begeisterung zu folgen.«
»Ich bin für die Obrigkeit bestimmt.« Er klang würdevoll, als er das sagte. »Aber die Obrigkeit ist nicht alles.«
»Oh, wirklich?« Sie betrat die Felsspalte, die eindeutig nach Panzerkatze stank, aber er schien bereits mehrere Bäume niedergerissen zu haben, um ihnen ein Nest zu bauen. »Was liegt jenseits der Obrigkeit?«
Seine Antwort war schlicht, aber sie traf sie bis ins Mark. »Du.«
»Das kann ich nicht glauben«, murmelte sie und krabbelte zwischen die Blätter.
Es war nicht viel mehr als das, was sie selbst für sich hergerichtet hätte, aber wenigstens lag sein beruhigender Umriss zwischen ihr und dem, was da draußen durch die Dunkelheit schlich. Seit sie Karindiras Stadt verlassen hatte, hatte Paolina sich nicht mehr viele Gedanken über die Gefahren auf den Hängen von a Muralha gemacht. In der Höhle eines Raubtiers zu übernachten und vom Messingmann bewacht zu werden, erinnerte sie daran, welches schreckliche Schicksal ihr hätte beschieden sein können.
Im Laufe des Abends wechselte sie von Wachphasen zu leichtem, traumreichen Schlaf. Der Messingmann stand regungslos auf dem Weg, wie er es bei ihrem ersten Treffen getan hatte. Im Tageslicht hatte er fast real gewirkt, doch jetzt war er nur noch ein Schatten. Sie konnte in diesem wundervoll gerüsteten Körper ein leichtes Ticken und Klicken vernehmen.
Als Paolina den Schimmer aus seinem Beutel zog, hoffte sie auf genügend Sternenlicht, um die Zeiger ausmachen zu können. Das Geräusch, das die Zeit verursachte, die am Grunde aller Existenz lag, war nur unterschwellig zu hören, gekleidet in Haut und Knochen und sich bewegendes Fleisch; die Zeit dieses metallischen Manns hingegen unterschied sich kaum von ihrer Taschenuhr.
Paolina merkte, dass sie nur ungern das Experiment wagen wollte, zumindest nicht ohne seine Zustimmung, nicht ohne seine Begeisterung dafür. Der Messingmann hatte etwas merkwürdig Charmantes an sich. Er war ganz sicher tödlich, aber er war auch eine Person.
Sie würde sich nicht wie ein Mann verhalten und andere nicht als Menschen ansehen. Wenn es einen Vorteil hatte, eine Frau zu sein – nun ja, zumindest ein Mädchen –,
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