Die Räder des Lebens
kilometerlangen Sturz in die Abenddämmerung überlebt hatten.
Der Rauch und der Staub erinnerten ihn nun daran. Das Kreischen des Bohrers ließ ihn die Schreie seiner Männer erneut hören.
Al-Wazir kletterte von seiner Palisade hinunter und betrat das freie Schussfeld. Er wollte den Tunnelbau für eine Zeit lang hinter sich lassen und seinen eigenen Gedanken in den grün schillernden Schatten des abendlichen Dschungels nachhängen. Er war mit einer Pistole und einer Machete bewaffnet. Alles, was groß genug war, sich ihm trotz seiner Bewaffnung entgegenzuwerfen, interessierte sich ohnehin nicht dafür, was er bei sich trug. An diesem Abend hatte er vor nichts Angst. Nur vor seinen Erinnerungen.
Die Mauer war eine grausame Liebhaberin – wie jede Frau schenkte sie das Leben und nahm es auch wieder. Manchmal wollte ein Kerl einfach nur etwas zu trinken und die Umarmung einer Frau, der er nichts schuldete.
Al-Wazir hatte sich mit dem Dschungel nie richtig anfreunden können. Das Meer, mit all seinen Launen und Mysterien, war ihm so vertraut wie seine eigene Koje. Lanarkshire, auch wenn er sich nur noch schwach daran erinnern konnte, hatte aus freiem Himmel, zerklüfteten Felsen und Schafen bestanden.
Der Bootsmann konnte sich genau an die Schafe erinnern. Vermutlich, weil er sie nicht hatte leiden können.
Aber dennoch handelte es sich um ein Land, das er kannte. Und jeder Hafen, den er besucht hatte, glich dem anderen. Die Anlegetürme der Luftschiffe, die Docks, Kneipen, Bordelle, Sklaven, Hunde, Affen, Jungs, heiße Pasteten und kühle Frauen. Es machte keinen Unterschied, ob man nun Nuuk oder New Haven oder Nouakchott anlief. Das Wetter veränderte sich, die Hautfarbe auch, aber wo man sein Geld zum Fenster rauswerfen konnte, das blieb immer gleich.
Der Dschungel hingegen … Jedes Mal, wenn er einen Dschungel betreten hatte, war es eine andere Art der Verwirrung gewesen. Selbst als sie die Wallachian Prince am Pier in Acalayong entladen hatten, war für ihn jeder Landgang wie ein Schritt in eine fremde Welt gewesen.
Der Boden veränderte sich ständig. Eben waren da noch Rankpflanzen gewesen, und nun verrotteten Blätter zu seinen Füßen oder ein blubberndes Schlammloch tat sich vor ihm auf. Riesige Blumen, die wie verschimmelndes Fleisch stanken, öffneten sich zitternd am Waldboden und waren am nächsten Tag schon nicht mehr da, als ob es sie überhaupt nicht gegeben hätte. Kleine Baumbestände, die eben noch voll brüllender Tiere gewesen waren, blieben still wie ein Friedhof, wenn er wieder an ihnen vorbeiging.
Die Welt bewegte sich, genauso wie das Meer, aber die Bäume hatten weder Flossen noch Schwänze, mit denen sie schwimmen konnten. In Gottes Namen – Dinge, die auf dem Land lebten, sollten gefälligst stillhalten, bis man sich in ihnen zurechtfand. Wie in einem Haus.
Und trotzdem ließ er wieder ihre Verteidigungslinien hinter sich und betrat die dunkel schimmernde, blättrige Finsternis.
Jemand hatte ihm mal gesagt, dass die Dschungel die Lungen der Welt seien. Al-Wazir war sich nie im Klaren gewesen, was das zu bedeuten hatte. Das konnte sicher nur so ein Schlaumeier von sich gegeben haben. Aber hier in der Dunkelheit konnte er es auf einmal spüren. Die Luft fühlte sich so feucht und warm an wie der unerträgliche Mundgeruch eines sterbenden Manns. Blätter bewegten sich im Wind und gegen den Wind. Dinge bewegten sich krachend durch die Äste, und es hörte sich nach sehr vielen an.
Die Nördliche Erde keuchte angestrengt hier an der Mauer, wie eine billige Hure, deren Schultern in einer Gasse hinter der Hafenkneipe gegen die Wand gepresst wurden. Und da war Ottweill, der ihr seinen Willen reinrammte. Genau wie es jeder jemals geborene Seemann bei all den armen Frauen getan hatte, die sich unter den Rock greifen lassen mussten, weil ihre Männer nicht mehr nach Hause gekommen waren.
Etwas packte ihn am Fußgelenk. Al-Wazir fiel beinahe hin. Er konnte sich gerade noch auffangen und griff nach seiner Machete, als er bemerkte, dass er über eine Ranke gestolpert war.
»Sir?«, fragte vor ihm eine vorsichtige Stimme.
»Hier al-Wazir«, blaffte er. Er fühlte sich peinlich berührt.
»Hier LaMont und Mitz, Sir.« Ein Schatten entstieg den dunkleren Schatten. »Auf dem Weg nach Hause, Sir, mit Ihrer Erlaubnis.«
»Ihre Patrouille endete mit der Abenddämmerung, richtig?«
»Sir, ja, Sir.« Er war sich ziemlich sicher, dass er mit LaMont sprach. Auch noch ein Zivilist,
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