Die Räder des Lebens
»Die Feder eines Engels. Winzig, aus Silber. Ein Mann nahm sie ihm ab.«
»Ihr Gott behandelt seine Boten nicht besonders gut«, stellte Leung fest.
»Das ist die völlig falsche Sichtweise. Der Mensch misshandelt die Boten Gottes. Nicht anders herum.«
»Tatsächlich. Also nahm er diese Feder in die Hand und machte sich auf die Suche nach der Feder der Welt?«
»Der Hauptfeder.« Sie spielte mit ihren Essstäbchen und schob Reiskörner vor sich her. Das war ihr mit der Zeit immer leichter gefallen. »Er suchte nach der Hauptfeder und wurde von einem Mitglied meiner Bruderschaft und später noch von einem weiteren unterstützt, bevor ich ihn aus den Augen verlor.«
»Wir wussten, dass etwas nicht stimmte«, gab Leung zu. »Das aber wussten wir nicht. Wie ich schon sagte, es gab viele Erklärungsansätze.«
»Ich halte diesen für den Richtigen.«
»Das macht Ihren Gott aber noch immer nicht zum wahren Gott.« Seine Stimme war ruhig, gefasst.
»Nein. Man kann sich nicht für die eine oder andere Geschichte entscheiden. Man kann Sein Werk verleugnen oder nicht, das ist jedermanns freie Entscheidung. Das ändert aber nichts daran, dass sich Messing am Himmel befindet und die Räder der Welt sich weiterdrehen.«
Nach kurzer Zeit sagte er: »Einige Untertanen Ihrer Himmlischen Majestät suchen in diesem Augenblick nach ihren eigenen Antworten.«
»Wirklich?« Diese Überlegungen waren ihr neu und von Interesse für sie.
»Südlich von Singapur. Sie haben die alte Stadt Chersonesus Aurea entdeckt.«
»Das ist keine chinesische Bezeichnung.«
»Nein«, gab er zu. »Ist es nicht. In vorgeschichtlichen Zeiten besaß die Stadt Chersonesus Aurea eine Goldene Brücke, die die Mauer überquerte.«
»Die Mauer?« Sie versuchte sich ihre Höhe vorzustellen.
»Vielleicht war es eher so etwas wie ein Tunnel.« Erneut blitzte sein Lächeln auf. »Wir arbeiten daran, die Goldene Brücke wiederzuentdecken oder wieder aufzubauen.«
Childress war entsetzt. »Warum?«
Nun wurde seine Stimme düsterer, bösartiger und klang zornig, als ob sein Herz von einem plötzlichen Donnergrollen erfüllt würde. »Wegen dem, was ihr Briten China antun werdet, wenn wir es nicht schaffen. Ihr umklammert uns bereits von Osten und Westen. Die Hälfte der Nördlichen Welt erkennt eure Oberhoheit an. Ihr würdet eure Fahnen über unseren Städten wehen lassen, wenn ihr nur die geringste Chance dazu erhieltet. Wenn ihr den Zugang zu den Ländern jenseits der Mauer habt, dann wird unser Himmlisches Reich enden.«
»Und würden Sie den Briten nicht genau dasselbe Schicksal angedeihen lassen?«, fragte sie leise. »Sie, die in unseren Nordatlantik eindringen und unseren Schiffen ein nasses Grab bereiten?«
»Nur für Sie, Maske Poinsard.« Seine Stimme klang eiskalt. »Es waren Ihre Handlungen, die uns hierhergebracht haben, nicht meine. Die Beiyang Navy hat mir einen Befehl erteilt, aber wir sind sicherlich nicht töricht genug, das zu einer Gewohnheit werden zu lassen: britische Schiffe in heimischen Gewässern aufzubringen, wenn wir so weit von unseren eigenen, sicheren Häfen entfernt sind.«
Sie wollte dieses Thema so schnell wie möglich hinter sich lassen. »Aber dennoch bedrängt uns China, wo immer es nur kann.«
»Wenn wir das nicht tun, wird sich Großbritannien ungehindert alles einverleiben.«
Sie starrten sich eine Zeit lang an. Das freundschaftliche Verhältnis, das sie hatten aufbauen können, war ihnen mit wenigen Worten verloren gegangen.
Sie wollte das nicht einfach aufgeben, sie wollte nicht allein und ohne Freund auf einem Schiff sein, in dem sie jederzeit von jedem dieser Männer umgebracht werden könnte. Childress atmete tief durch und erschauderte. »Ich bitte um Entschuldigung, Kapitän. Diesen Disput sollten wir zu einem anderen Zeitpunkt führen, vielleicht sogar nie. Kommen wir doch zur Goldenen Brücke zurück. Wissen Sie, was jenseits der Mauer liegt?«
»Natürlich nicht. Ich weiß nicht mehr als Sie.«
»Genau darum geht es mir. Jeder Reisende, der zurückkehrte und von seinen Abenteuern berichtete, jeder Heilige, der Mythen über die Mauer verbreitete, hat von Zaubermächten und Gefahren berichtet, von denen eine schlimmer als die andere ist.« Sie hielt inne und überlegte sich ihre nächsten Worte ganz genau. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, was ihre Goldene Brücke entfesseln könnte?«
»Es ist die Goldene Brücke des Himmlischen Kaisers.« Leung trommelte mit den Fingern auf dem kleinen
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