Die Räder des Lebens
Tisch. »Und ja, genau diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Jeder Offizier unserer Navy, der die heimischen Gefilde schon einmal weit hinter sich gelassen hat, hat die furchterregenden Monster gesehen, die auf der Mauer leben. Wesen, die Legenden zu entspringen scheinen oder noch viel Schlimmerem. Die Priester und Eunuchen am Hof glauben nicht an die Kreaturen, die in Wirklichkeit die Meere durchschwimmen und die Lüfte durchpflügen, aber wenn es darum geht, die Dämonen der Unterwelt zu zählen, dann verhalten sie sich wie Bauern, die zur Volkszählung antreten.«
Der Kapitän hatte seine englischen Worte stets sorgfältig gewählt, um ihr nicht zu großen Einblick in seine Gedankenwelten zu ermöglichen, aber hier schien es klar, dass ihn dieses Verhalten anwiderte.
»Ich bin Spiritualistin, Sir, wie jeder andere weiße Tukan. Aber ich bin auch Empirikerin. Nur ein völlig verblendeter Rationalhumanist würde die Gegenwart des Göttlichen in unserem Leben verleugnen. Wir kümmern uns auch nicht wirklich darum, die auf einem Nadelkopf existierende Population von Engeln zu zählen. Nur rate ich Ihnen, das, was sich in den geheimnisvollen Abgründen des Glaubens befindet, nicht als wertlos anzusehen.«
»Weißer Tukan?«, fragte er. »Sie gehören doch zu den avebianco , oder nicht?«
Childress erkannte ihren Fehler. »Eine regionale Bezeichnung für uns in Neuengland. So nennen sie den weißen Vogel in den Kolonien.«
»Ich verstehe. Ich wollte nicht von der Diskussion ablenken, aber Ihre Wortwahl erregte mein Interesse, Maske Poinsard.«
Sie fragte sich, ob er ihre Tarnung durchschaut hatte. Sie konnte nichts tun, außer einfach weiterzumachen. »Nennen Sie uns, wie Sie wollen, aber wir, die wir den Gefederten Masken folgen, sehen die Mauer nicht als den Weg zur Erlösung an. Christus starb durch die Hände der Römer, und er ist stellvertretend für unsere Sünden gerädert worden. Die Mauer zu durchbrechen würde die nicht erlösten seltsamen Wesen und die Zaubermacht der Südlichen Hemisphäre in unsere Welt eindringen lassen und zugleich die Kreaturen und Spezies auf uns herabrufen, die dort im Himmel leben. Ist das die Goldene Brücke wert? Nur um England zuvorzukommen?«
Leung schien es zu freuen, ihr vorheriges Rededuell wieder aufzunehmen. »Die Ausführungen Ihrer unbedeutenden Propheten bedeuten dem Himmlischen Reich nichts. Wie es der Zufall so will, teile ich Ihre Befürchtungen bezüglich der Mauer, denn das gebietet schon der gesunde Menschenverstand. Von der Mauer ist aber nie eine ernst zu nehmende Bedrohung für unser Land ausgegangen. Ich kann nur hoffen, dass dies auch dann nicht geschieht, wenn wir uns in die Angelegenheiten an der Mauer einmischen.«
»Wer könnte die Goldene Brücke aufhalten? Der Kaiser?«
»Das Wort des Kaisers ist das Wort des Himmels. Wenn es sein Wunsch wäre, dass jeder Mann der Beiyang Navy den Tod durch sein eigenes Schwert erleiden solle, dann würden wir sterben. Der Kaiser tendiert in der Regel allerdings nicht zu derartigen Anweisungen. Das Himmlische Reich ist eine komplexe Angelegenheit.«
»Dezentrale Machtstrukturen«, sagte Childress. »Ihre Admiräle und Statthalter stehen auf eigenen Füßen.«
»Ohne es jemals so auszusprechen, ja.« Leung schien das Thema unangenehm zu sein. »Wir streben stets danach, das natürliche Gleichgewicht unter den Untertanen unseres Himmlischen Herrschers zu bewahren, indem wir die tatsächlich vorhandenen Unterschiede und das himmlische Mandat in praktischen Einklang bringen.«
»Wirklich. Sie ähneln den Engländern vielleicht mehr, als sie denken.«
Am nächsten Tag ging die Five Lucky Winds in einem kleinen Inselhafen vor Anker. In der Ferne ließ sich eine größere Landmasse erkennen; Berge, die sich in Wolken und Nebelschwaden hüllten, aber auch hier fanden sich felsige Hügel, auf denen die Bäume höher wuchsen als alles, was Childress je zuvor gesehen hatte. Adler kreisten über der Bucht und stießen entsetzte Schreie beim Anblick des Unterseeboots aus.
Die Matrosen ruderten in zwei kleinen Booten an Land, um auf die Jagd zu gehen und ein Lager aufzuschlagen. Kapitän Leung hatte ihnen Landurlaub erteilt, hier, wo es keine Kneipen oder leichten Mädchen gab. Seine Männer mussten in ihrer Freizeit mit der Natur vorliebnehmen.
»Wir legen großen Wert auf die Poesie«, sagte er zu Childress, als sie auf dem Steinufer neben der Feuerstelle standen, die am Abend angezündet werden sollte. »Der
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