Die Räder des Lebens
Wert eines Gentleman wird oft nach seinen Worten bestimmt und nach der Kalligrafie, mit der er sie zu Papier bringt.«
»Worte über nebelverhangene Berge?«
»Nun, ja.« Er nickte und ließ sie dann zurück, um die Eingrenzung ihres Strandlagers abzugehen.
Der Politoffizier näherte sich ihr, sobald Leung außer Hörweite war. Childress hatte ihm auf dem U-Boot praktisch nicht ausweichen können. Er hatte wieder eine Pistole dabei und sein schräges Lächeln aufgesetzt.
»Hallo.« Er zeigte ihr erneut das Handzeichen des weißen Vogels.
Sie wusste nicht, wie sie sich elegant von ihm abwenden konnte. Und ihr fiel auch keine unelegante Möglichkeit ein, um ehrlich zu sein. Er war bewaffnet, und sie konnte nirgendwo hingehen. »Hallo.«
»Sie gehen Europa.«
»Nicht jetzt.« Sie fragte sich, was er damit meinte.
»Ah, Sie von Europa.«
Eine weitere Lüge. Childress legte ihre gesamte Stärke und Kälte in ihre Stimme. »Ich bin die Maske Poinsard.«
Er lachte. »Ich sehen. Ich lernen. Ich wissen.« Nach einer leichten Verbeugung entfernte er sich.
Childress sah ihm hinterher und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Sie drehte sich um und sah auf die Bucht hinaus. Das Unterseeboot lag vor Anker und schwamm auf den Wellen. Der Metallturm erhob sich wie eine kleine Burg aus der grauen Dünung.
Dass die Chinesen ein solches Schiff bauen, damit unter dem Eis durchtauchen und Schiffe im Atlantik versenken konnten, hätte ihr vermutlich genauso viel Angst einjagen sollen wie die Goldene Brücke. Aber es lag in der Natur von Nationen, miteinander Krieg zu führen. Die Mauer zu durchbrechen hingegen und die Bewohner dieser Barriere auf die Ebenen der waagerechten Welt herabzubeschwören, war widernatürlich.
Die Torheit dieses Unterfangens musste jeder halbwegs vernünftige Mensch verstehen können, ob er nun daran glaubte, dass Gott sich in die Belange der Welt einmischte – oder nicht.
Acht
Paolina
Als Paolina erwachte, war Boas verschwunden. Sie wurde sofort von Gewissensbissen gequält. Natürlich hatte sie ihn schlecht behandelt. Es war nicht von Bedeutung, was er zuvor getan hatte – sie hatte sein Vertrauen missbraucht. Er war ihr Freund, auch wenn seine Persönlichkeit im Grunde die eines Manns war.
Sie kletterte aus ihrem Blätternest. Das laute Krachen und das Trommeln der Nacht hatten sich in die täglichen Geräusche des Dschungels verwandelt – Tiere, Vögel, knarzende Bäume, raschelnde Rankpflanzen. Sie alle bewegten sich in einem schwankenden Rhythmus, der sie beruhigte.
Die Landschaft um Praia Nova war trockener gewesen, spärlicher. Aber sie wusste dennoch, dass sie Dinge vermeiden sollte, die zu bunt waren oder zu viele Stacheln besaßen. Weder die bunt schillernden Frösche noch die zitternden Blumen hatten ihr Interesse verdient.
Boas war strahlend und bunt gewesen, auf eine Messingweise.
Sie verdrängte diesen Gedanken und ging Richtung Osten, am Rand des Dschungels entlang, der sich an die emporsteigenden Felsen der Mauer schmiegte. Die afrikanische Küste war ganz in der Nähe, und ein schlammiger Fluss schleppte sich aus dem Inland zur See hinab.
In ihrer Nähe entdeckte sie Kampfspuren – umgestürzte Bäume, schwelende Aschehaufen, einen dreckigen, zerfurchten Pfad, auf dem ein Teil der gesiegelten Armee vorbeigezogen war.
Grollen war in der Ferne zu hören. Grauer Rauch oder Dampf stieg in dünnen Fäden jenseits eines vorgelagerten Felsens auf, der sich vor die unregelmäßigen Säulen geschoben hatte, aus denen hier der Fuß der Mauer bestand.
Die Engländer?
Paolinas Herz raste, als sie sich ihrem Lager näherte.
Sie kletterte über einen Felsbrocken, der weit über ihr abgebrochen sein musste. Das Gestein wurde härter und war von den grünen Fingern des Dschungels überwuchert. Paolina überlegte sich, den Abhang hinunter in Richtung des Weges zu gehen, auf dem die Armee vorbeigezogen war, aber sie musste davon ausgehen, dass der von den Engländern überwacht wurde.
Als sie auf der anderen Seite des Felsen anlangte, entdeckte sie Boas. Er kniete hinter einem kleineren Brocken und starrte in Richtung Osten.
»Ich dachte, du wärst geflohen«, sagte sie.
»Wo sollte ich hingehen?« Er nickte, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Dort liegt eine Absperrung, eine kleine, aus Holz.«
Sie setzte sich an seine Seite und spähte in die Richtung, in die auch er blickte. Sie war nicht schwer zu erkennen – eine Holzpalisade, die sich von der Außenseite der Mauer in einem
Weitere Kostenlose Bücher