Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
New York ein etwas größeres Modell war als das von Mr Pettishanks. Die Gleise waren mit der Süduferlinie verbunden, die nach Buffalo hinaufführte. Keine Pappmaschee-Berge für Christopher Crawford. Seine Rocky Mountains bestanden aus hartem Granit. Sie waren aus den Felsen gemeißelt, auf denen das Haus errichtet war. Der Pikes Peak, einer der höchsten Berge der Rocky Mountains, wuchs zu enormer Höhe empor. Die Bergpässe und Felsen wirkten täuschend echt. Dad erklärte, dass Christophers Bahnhof von Los Angeles die neue, vor zwei Jahren erbaute Los Angeles Union Station sei, woich auch angekommen war. Sie war unglaublich. Rubinrote Straßenlaternen, die von antiken Göttinnen gehalten wurden, beleuchteten den Vorplatz. Zehn Züge fuhren unter dem gewölbten Mammutdach der Halle hinein und hinaus.
    Das Prunkstück der Anlage war jedoch eine Hängebrücke. Diese Brücke war immer die komplizierteste Konstruktion, die Lionel in seinem Angebot führte, und die teuerste. Nicht einmal Mr Pettishanks hatte so eine Brücke besessen. Sie war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet wie eine wirkliche, hundertmal größere Brücke.
    Ich fand eine Stelle, wo der Union Pacific aus einem Tunnel herauskam und die Schienen des Atchison, des Topeka und des Santa Fe kreuzte. Ein kleinerer Zug hatte bei einem Haltesignal gestoppt, um einen größeren Zug passieren zu lassen. Meine Tasche mit den neuen Jungenkleidern fest in der Hand, legte ich meine Wange auf das kratzige künstliche Gras der Anlage. Mit all meiner Vorstellungskraft heftete ich meine Augen auf den Schienenräumer an der riesig wirkenden Lokomotive. Die Kohlen im Gleisbett erschienen mir so groß wieBaseball-Bälle. Fast konnte ich den Klang meiner Schritte auf dem gelben Fliesenboden des fantastischen neuen Bahnhofs von Los Angeles hören. Dutch folgte mir mit den Augen.
    Konnte ich es schaffen? Alles schien richtig. Alles außer einer Sache. Konnte ich meinen Dad verlassen?
    Mein Dad flüsterte: »Meinst du, du schaffst es, Oscar? Meinst du, es klappt?«
    Ich antwortete: »Das wirst du gleich sehen, Dad. Wenn ich es kann, dann bin ich weg, einfach so, mir nichts, dir nichts.«
    Dad hielt mich für eine lange Minute in seinen Armen. Dann schob er mich von sich und sah mir ins Gesicht. Bekümmert strich er sich über den Kopf, wo einmal sein dichtes, schwarzes Haar gewesen war. Einen Moment lang sagte er nichts, aber dann nickte er. »Leb wohl, Oscar«, flüsterte er.
    »Leb wohl, Dad!«, sagte ich mit meiner tiefen Männerstimme, die dennoch krächzte.
    Mein Dad konnte es nicht mitansehen. Er drehte sich um. Dutch schlug mir auf den Rücken. Ich fühlte mich wie mit einer Rettungsleine zu meinem Vater gezogen. Aber ich war im Begriff, uns reichzu machen. Ich lächelte durch die Tränen, die meine Augen füllten.
    Plötzlich rief Dutch mit seiner lautesten Fußballplatzstimme: »Los, Oscar! Los!«, und ich tat es. Mit aller Kraft sprang ich auf die Anlage und ließ mein Herz zurück.

Als ich zu mir kam, verkündete die Leuchtschrift über mir: MERCY HOSPITAL . Die Notaufnahme roch nach Desinfektionsmitteln und Dosensuppe. Mitfühlende Augen und fachkundige Finger untersuchten mein zerschnittenes Gesicht.
    »Hallo, ich bin Schwester Washington«, sagte eine kompetente Stimme. Es war neun Uhr abends und die Schwester war müde; ich konnte es an ihren rotgeränderten Augen sehen. Unter dem grellen Licht der Untersuchungslampe betrachtete sie kritisch meine Augen.
    »Keine Gehirnerschütterung«, erklärte sie. Dann schüttelte sie ihre Locken und schob ihren Stuhl mit einem Quietschen über den Linoleumboden an ihren Schreibtisch zurück.
    Diesmal hatte ich keine Erinnerungslücke. Ich sah jede furchtbare Einzelheit deutlich vor mir. Meine Tasche war mir aus der Hand geflogen und auf der neuen Union Station gelandet, wobei sie nur knapp die schönen Stucktürme verfehlte. Ich hatte mir den Kopf am granitharten Kamm von Christophers Pikes Peak gestoßen, dessen Gipfel so spitz wie das Matterhorn gemeißelt war. Von dort war ich zurückgeprallt und in die Denver Union Station mit ihren winzigen Scheiben aus richtigem Glas gekracht, das in tausend Scherben zersplitterte und mir das Gesicht zerschnitt. Mein rechter Fuß hatte sich in den Trägern der Brücke über den Colorado River verhakt, hatte die Brücke zertrümmert und bei der Landung auf der anderen Seite hatte es auch noch mein Knie erwischt. Aber warum? Warum war es so

Weitere Kostenlose Bücher