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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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seiner Hand, aber Ratten niemals, die wären selbst im Traum ihm nicht eingefallen.
Besinnlichkeit lagerte zwischen den beiden als Staub ab. Sie dachten sich zurück. Besonders mag es unserem Herrn Matzerath gefallen haben, sein Leben Station nach Station rückläufig aufzuspulen. Dann nahm er die goldumränderte Brille ab, zeigte seine blauen, jedes Wunder durchschauenden Augen, lud unvermittelt den Maler zu seinem demnächst fälligen Geburtstag ein und sagte: »Mein lieber Malskat, Sie hätten den Schwindel auf sich beruhen lassen sollen.« Darauf der Maler: »Mag sein, daß Sie recht haben. Aber ich bin nun mal eine ehrliche Haut.«
    Wie in der Kirche das Amen,
alles ist vorbestimmt, weshalb auf vielen Papieren und in Filmen, die spannend sind, unser Ende bereits geklappt hat und nun Legende ist, wie diese Geschichte aus Hameln, die gleichfalls vorbestimmt war.
Als nämlich die Kinder mit ihren Ratten verschütt im Kalvarienberg saßen und die Zeit nicht vergehen wollte, flüsterten sie
einander zu: Das ist nicht das Ende,
Man wird uns suchen und
finden bestimmt.
    Die Hämelschen Bürger, die ihre Kinder samt Ratten im Berg vermauert und dann
verschüttet hatten, beschlossen, ihre Kinder zu suchen, taten, als suchten sie wirklich,
begaben sich auf Suche und riefen: Wir werden sie finden bestimmt.
    Nur eines der Kinder im Berg sagte zu seiner Ratte: Man wird uns nicht finden, weil niemand uns sucht. Das war schon, das weiß ich, vorherbestimmt.
    Ich kann sie zeichnen auf weißem Papier: Die Rättin, von der mir träumt, trägt ihr Haar gelockt und wird zunehmend menschlich. Wenn sie beiläufig sagt, die Herrschaft der neuschwedischen Watsoncricks im Raum Danzig-GdaDsk erweist sich als milde und kommt ohne Härte aus, spricht sie in eigener Sache. Keine Weihnachtsratte, nicht mehr die Rättin mit nacktem Schwanz belebt meine Träume bei Tag und bei Nacht, vielmehr will mich dieser rattige Mensch schöngelockt an Damroka erinnern, die eigentlich auf einem Forschungsschiff mit anderen Frauen verging, dann aber, weil mir eine Postkarte träumte, der ein Brief zu folgen versprach, plötzlich wieder da war: zuhaus.
Sie hört mir geduldig zu. Sie versteht meine Klagen, mein Leugnen ihrer prächtigen Wirklichkeit. In immer neuen Einfällen gefällt sich ihr Haar. Liebster, sagt sie, reicht es dir nicht, nur noch geträumt, einzig von mir geträumt zu werden und fortan außer Verantwortung zu sein, weil du abseits meiner Träume nicht bist?
Angenehm ist es, von ihr, die ich sagt, geträumt zu werden. Sie zeigt mir alles. Die aufrecht schreitenden Neuschweden in den Gassen der Danziger Rechtstadt. Wie sie als Paare mit ihrer Aufzucht wirklich niedlich ist der kindliche Rattenmensch anzusehen vom Langgasser Tor bis zum Langen Markt auf und ab schlendern. Von Normalratten keine Spur. Nur wenn sie als Inspekteure immer zu zweit das Umland, die Weichselniederungen, die Kaschubei bereisen, kommen gewöhnliche Ratten ins Bild.
Freundlich und aufmerksam überwachen die Watsoncricks den Ackerbau der Rattenvölker. Sie raten und wissen viel. Noch immer herrscht Gersteund Maisanbau vor, leuchten weite, gehügelte Sonnenblumenfelder. Immer noch fangen Jungratten, hinterm Fruchtkorb versteckt, Tauben, Spatzen, sonstige Schädlinge weg.
Die Neuschweden sagen: Wir gehen behutsam vor. Schließlich sind es unmanipulierte Ratten gewesen, die nicht nur sich, die auch uns versorgten, die uns, als wir nur wenige und geschwächt waren, hätten vertilgen können. Aber sie nahmen uns an. Zur Ankunft Glockengeläut. Als Menschen in verbesserter Ausgabe erkannten sie uns. Nicht deine Rückkehr, Liebster, war ersehnter Wunsch, vielmehr galt ihr Flehen und Singen unserem Kommen. Du hast mir von Messen erzählt, hast das Beten der Rattenvölker nach deinem Verständnis katholisch genannt. Das ist Unsinn, Aberglaube. Wir haben ihren Versammlungen eine neue, sozusagen reformierte Ordnung gegeben.
Und ich sah die Veränderungen im Innenraum der Marienkirche: Anna Koljaiczek als Mumie mit dem geschrumpften Oskar zu Füßen, desgleichen aller Altarschmuck, die Golddukaten und weißblaue Schlümpfe, die Brille samt Futteral, der Brieföffner, das Gebiß, der schmiedeeiserne Schriftzug Solidarno[, Polens Staatsorden und Oskars Ringe waren verschwunden. Kalte Strenge und protestantische Leere herrschten. Den Dienst am Altar versahen steif und umständlich, als müßten sie einander überwachen, zwei männliche Neuschweden. Doch von der Kanzel herab sprach

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