Die Räuberbraut
Mrs. nannte und einen Ring trug. Es gab keine Hochzeitsfotos, aber im Krieg war alles anders gewesen, das sagten alle. Irgend etwas in der Stimme von Tante Vi hatte Karen stutzig gemacht: sie war eine Peinlichkeit, jemand, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand sprechen konnte. Sie war zwar keine richtige Waise, hatte aber den Makel eines Waisenkindes.
Karen vermißte ihren toten Vater nicht, denn wie konnte man jemanden vermissen, den man nie gekannt hatte? Aber ihre Mutter sagte, sie müsse ihn vermissen. Es gab ein gerahmtes Foto von ihm – nicht zusammen mit ihrer Mutter, allein, in seiner Uniform, mit einem langen, knochigen Gesicht, das ernst und irgendwie schon tot aussah – das auf dem Kaminsims auftauchte und wieder verschwand, je nachdem, in welcher Verfassung ihre Mutter war. Wenn sie sich dazu in der Lage fühlte, es anzusehen, war das Foto da, sonst nicht. Karen benutzte das Foto ihres Vaters als eine Art Wettervorhersage. Wenn es verschwand, wußte sie, daß es Ärger geben würde, und sie versuchte, ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, ihr nicht unter die Füße zu kommen, ihr nicht in die Haare zu geraten (Weg, Füße, Haare, wie konnte sie gleichzeitig auf oder unter oder in allen sein?) Aber es gelang ihr nicht immer, oder aber es gelang ihr zu gut, und dann beschuldigte ihre Mutter sie, zu träumen, oder nicht zu helfen, oder sich nicht zu kümmern, oder sich keinen Dreck um irgend jemand zu scheren, außer um sich selbst, und ihre Stimme wurde hoch, wurde höher, wurde gefährlich hoch, stieg wie ein Thermometer in den roten Bereich.
Karen versuchte zu helfen, sie versuchte, sich zu kümmern. Sie hätte sich gekümmert, bloß wußte sie nicht, worum genau sie sich kümmern sollte, und außerdem gab es so vieles, was sie beobachten mußte, wegen der Farben, und andere Dinge, auf die sie hören mußte. Stunden vor einem Sturm, wenn der Himmel noch windleer und blau war, konnte sie spüren, wie das Flüstern der fernen Blitze über ihre Arme lief. Sie hörte das Telefon, bevor es klingelte, sie hörte, wie die Schmerzen sich in den Händen ihrer Mutter sammelten, sich dort stauten wie Wasser hinter einem Damm, darauf warteten, überlaufen zu können, und sie stand wie gelähmt mitten im Zimmer, den Blick egal wohin gerichtet, nur nicht auf ihre Mutter, und sah – wie ihre Mutter sagte – wie eine Idiotin aus. Dumm! Vielleicht war sie dumm, denn manchmal verstand sie nicht, was zu ihr gesagt wurde. Sie hörte die Worte nicht, sie hörte an den Worten vorbei; sie hörte statt dessen die Gesichter, und was hinter ihnen war. Nachts wurde sie wach und stand an der Tür und hielt den Griff in der Hand und wußte nicht, wie sie hierher gekommen war.
Warum tust du das? Warum? sagte ihre Mutter und schüttelte sie, und Karen konnte nicht antworten. Mein Gott, du bist eine Idiotin! Weißt du nicht, was dir da draußen alles passieren könnte? Aber Karen wußte es nicht, und ihre Mutter sagte: Ich werd es dir zeigen, du kleines Miststück! Und dann schlug sie mit einem ihrer Schuhe, oder mit dem Pfannenwender, oder mit dem Besenstiel, oder was immer gerade zur Hand war, auf die Rückseite von Karens Beinen ein, und ein dickes, rotes Licht quoll aus ihrem Körper, und ein Teil davon blieb an Karen kleben, und Karen wand sich und schrie. »Wenn dein Vater noch am Leben wär, würd er das hier erledigen, und er würd einen ganzen Zacken fester zuschlagen, das kannst du mir glauben!« Karen zu schlagen war die einzige Funktion, die Karens Mutter ihrem Vater zuschrieb, weshalb Karen insgeheim erleichtert war, daß er nicht da war.
Normalerweise sagte Karens Mutter nicht Idiotin und Gott und Miststück, sie fluchte nicht; nur wenn eine Phase schlechter Nerven bevorstand. Karen weinte viel, wenn ihre Mutter sie schlug, nicht nur, weil es weh tat, sondern auch, weil von ihr erwartet wurde, daß sie zu erkennen gab, daß es ihr leid tat, obwohl sie nicht genau wußte, was ihr leid tun sollte. Und wenn sie nicht weinte, schlug ihre Mutter so lange weiter, bis sie es tat. Du bist ein hartes Mädchen! Aber sie mußte im richtigen Augenblick wieder aufhören, sonst schlug ihre Mutter sie, weil sie weinte. Hör mit dem Geheule auf! Hör sofort auf! Manchmal konnte Karen nicht aufhören, und ihre Mutter auch nicht, und das waren die schlimmsten Zeiten. Ihre Mutter konnte nichts dafür. Es waren ihre Nerven.
Dann fiel Karens Mutter auf die Knie und schlang die Arme um Karens Körper und drückte sie so fest an sich,
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