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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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daß sie kaum noch Luft bekam, und weinte und sagte: »Es tut mir leid, ich liebe dich, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, es tut mir leid!« Und Karen versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, sie versuchte zu lächeln, weil ihre Mutter sie liebte. Wenn jemand einen liebte, war alles in Ordnung. Karens Mutter sprühte sich jeden Tag mit einem Parfüm ein, das Tabu hieß; sie hatte panische Angst davor, schlecht zu riechen. Und das war der Geruch, der bei diesen Schlägen im Zimmer herrschte: warmes Tabu.
     
    Karens Tante Vi mochte Karen nicht besonders, aber wenigstens berührte sie sie nie, und im Grunde war es gar nicht so schlimm bei ihr. Karen schlief im Gästezimmer, das große, beunruhigende Rosen auf den Vorhängen hatte, orange- und pinkfarbene Rosen, wie Blumenkohlköpfe. Sie bemühte sich, nicht im Weg zu sein. Sie half beim Abwasch, ohne daß man sie dazu auffordern mußte, und legte ihre Taschentücher zusammengefaltet in die oberste Kommodenschublade und rollte ihre Socken paarweise zusammen und machte sich nicht schmutzig. »Sie ist ja ein ganz nettes kleines Ding, aber irgendwie ist nicht viel an ihr dran«, sagte Tante Vi am Telefon. »Milch und Wasser. Na ja, ich sorg dafür, daß sie sauber angezogen ist und genug zu essen bekommt, was nicht weiter schwer ist. Es gehört nun mal zur christlichen Nächstenliebe, und schließlich haben wir ja keine eigenen Kinder, es macht mir wirklich nichts aus.«
    Onkel Vern ging ein Stück weiter. »Na, wer ist mein kleines Mädchen 7 « rief er. Er wollte, daß Karen sich auf seinen Schoß setzte, er streichelte ihren Kopf, er beugte sein Gesicht zu ihrem herunter und grinste sie an und kitzelte sie unter den Armen; Karen mochte es nicht, aber sie lachte trotzdem nervös, weil sie wußte, daß er es von ihr erwartete. »Wir haben unseren Spaß, nicht wahr?« sagte er überschwenglich; aber er glaubte es selbst nicht, es war nur seine Vorstellung davon, wie er sich seiner Meinung nach ihr gegenüber verhalten sollte. »Laß sie in Ruhe«, sagte Tante Vi kühl.
    Onkel Verns Haut war außen weiß, aber untendrunter war sie rot. Er mähte den Rasen in seinen Shorts, sonntagabends, wenn Tante Vi in der Kirche war, und dann wurde er noch röter, obwohl das Licht um seinen Körper herum trübe und von einem schlammigen Grünlichbraun war. Morgens, wenn Karen noch im Bett lag, konnte sie ihn im Badezimmer grunzen und stöhnen hören. Sie zog sich das Kissen über den Kopf.
    »Sie schlafwandelt, aber nicht weiter schlimm«, sagte Tante Vi am Telefon. »Ich schließ einfach die Türen ab, damit sie nicht raus kann. Ich weiß wirklich nicht, wieso Gloria sich immer so aufregt. Aber natürlich ist sie mit den Nerven völlig fertig. Allein mit einem – nun ja, einem Kind an der Hand, wie es nun einmal ist – da hab ich einfach das Gefühl, helfen zu müssen. Schließlich bin ich ihre Schwester.« Sie senkte die Stimme, wenn sie das sagte, als wäre es ein Geheimnis.
    Ihre Tante und ihr Onkel wohnten nicht in einer Wohnung, so wie ihre Mutter. Sie wohnten in einem Haus, einem neuen Haus in einem Vorort, mit Teppichen, die über den ganzen Boden gingen. Onkel Vern war in der Möbelbranche; es gab eine große Nachfrage nach Möbeln, weil es kurz nach dem Krieg war, und deshalb ging es Onkel Vern gut, und im Augenblick waren Onkel Vern und Tante Vi in Urlaub gefahren. Sie waren nach Hawaii gefahren. Deshalb konnte Karen nicht bei ihnen bleiben, sondern mußte zu ihrer Großmutter.
    Sie mußte fahren, weil ihre Mutter Ruhe brauchte. Sie brauchte sie dringend; Karen wußte, wie dringend. Als sie den gestärkten Rock von der Rückseite ihrer Beine abpellte, ging auch ein Teil der Haut ab, denn letzte Nacht hatte ihre Mutter den Pfannenwender benutzt, nicht mit der flachen Seite, sondern quer; sie hatte die scharfe Kante benutzt, und es hatte geblutet.
     
    Die Großmutter holte sie in einem klapprigen blauen Kleinlastwagen am Bahnhof ab.
    »Wie geht es dir, Gloria?« sagte sie zu Karens Mutter und schüttelte ihr die Hand, als wären sie zwei Fremde. Ihre Hände waren groß und sonnenverbrannt, genau wie ihr Gesicht; auf dem Kopf hatte sie ein struppiges, weißlich-graues Nest, das, wie Karen einen Augenblick später erkannte, ihre Haare waren. Sie trug einen Overall, und nicht mal einen sauberen. »Das also ist die kleine Karen.« Ihr großes, zerknittertes Gesicht neigte sich nach unten, mit einem Schnabel von einer Nase und zwei kleinen, hellblauen Augen unter drahtigen

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