Die Räuberbraut
Kraft, drückt sie auf das Wasser herunter, aber dieses Mal will Karen nicht untergehen. Sie kommt immer näher und näher, sie öffnet den Mund. Sie will etwas sagen.
33
Karen kam bei den falschen Eltern zur Welt. So etwas konnte passieren, sagte Charis’ Großmutter, und Charis ist derselben Meinung. Solche Menschen müssen lange suchen, sie müssen ihre richtigen Eltern suchen und identifizieren. Oder sie müssen ohne sie durchs Leben gehen.
Karen war sieben, als sie ihre Großmutter das erste Mal sah. Sie trug an dem Tag ein Baumwollkleidchen, das vorne gesmokt war und hinten eine Schleife hatte, und passende Haarschleifen an den Enden ihrer hellblonden Zöpfe, die so fest geflochten waren, daß sie das Gefühl hatte, Schlitzaugen zu haben. Ihre Mutter hatte das Kleid gestärkt, und es war steif und ein bißchen klebrig, von der stickigen Hitze des späten Junis. Sie nahmen den Zug, und als Karen von dem heißen Plüschsitz aufstand, mußte sie den Rock des Kleids von der Rückseite ihrer Oberschenkel abpellen. Es tat weh, aber sie war klug genug, das nicht zu sagen.
Ihre Mutter trug ein hellbeiges Leinenkostüm mit einem ärmellosen Kleid und einer kurzärmeligen Jacke darüber. Sie hatte einen weißen Strohhut und eine weiße Tasche und passende Schuhe und ein Paar weiße Baumwollhandschuhe, die sie in der Hand trug. »Ich denke, es wird dir gefallen«, sagte sie immer wieder, ein bißchen nervös. »In mancher Hinsicht bist du deiner Großmutter sehr ähnlich.« Das war neu für Karen, weil ihre Mutter und ihre Großmutter lange Zeit kaum miteinander gesprochen hatten. Vom Hören wußte sie, daß ihre Mutter von der Farm weggelaufen war, als sie erst sechzehn war. Sie hatte anstrengende Knochenjobs gemacht und ihr Geld gespart, damit sie zur Universität gehen und Lehrerin werden konnte. Sie hatte das alles getan, damit sie nicht mehr unter der Fuchtel ihrer Mutter, dieser verrückten alten Schachtel, stehen mußte. Keine zehn Pferde würden sie zu diesem Müllhaufen zurückschleifen können, sagte sie immer.
Und doch waren sie jetzt hier, fuhren geradewegs zu der Farm, die Karens Mutter so sehr haßte, Karens Sommerkleider ordentlich in einen Koffer gepackt, und der kleine Weekendkoffer ihrer Mutter daneben auf der Gepäckablage. Sie fuhren an Feldern vorbei, alleinstehenden Häusern, grauen, halb zerfallenen Scheunen, Kuhherden. Karens Mutter haßte Kühe. Eine ihrer Geschichten handelte davon, wie sie im Winter aufstehen mußte, im Schneesturm, vor Sonnenaufgang, und zitternd durch den wirbelnden Schnee stapfte, um die Kühe zu füttern. Aber: »Die Kühe werden dir gefallen«, sagte sie jetzt mit der zu süßen Stimme, die sie in der Schule für die Zweitkläßler reservierte. Sie kontrollierte ihren Lippenstift im Spiegel ihrer Puderdose und lächelte Karen an, um zu sehen, wie sie das alles aufnahm. Karen lächelte unsicher zurück. Sie war es gewöhnt, auch dann zu lächeln, wenn ihr gar nicht danach zumute war. Im September würde sie in die zweite Klasse kommen; sie hoffte nur, daß man sie nicht in die Klasse ihrer Mutter stecken würde.Es war nicht das erste Mal, daß sie von zu Hause weg war. Bei anderen Gelegenheiten war sie zu ihrer Tante Viola geschickt worden, der älteren Schwester ihrer Mutter. Manchmal nur für eine Nacht, weil ihre Mutter ausgehen wollte; manchmal für Wochen, vor allem im Sommer. Ihre Mutter brauchte im Sommer eine lange Pause, wegen ihrer Nerven. Wer hätte es nicht mit den Nerven , unter diesen Umständen , sagte Tante Vi mißbilligend, wie um zu sagen, was konnte Karens Mutter anderes erwarten? Sie sprach mit Onkel Vern, sah dabei aber aus den Augenwinkeln zu Karen hinüber, als wären die Nerven Karens Schuld. Aber das waren sie sicher nicht, nicht alle, weil Karen versuchte zu tun, was ihr gesagt wurde, auch wenn sie manchmal einen Fehler machte; und dann waren da noch die anderen Sachen, zum Beispiel das Schlafwandeln, für die sie nichts konnte.
Die Nerven waren die Schuld des Krieges. Karens Vater war im Krieg gestorben, als Karen noch nicht einmal geboren war, so daß Karens Mutter Karen ganz allein großziehen mußte – was anscheinend sehr schwer war, praktisch unmöglich. Und dann war da noch etwas, was mit der Hochzeit von Karens Mutter zu tun hatte, oder ihrer Nicht-Hochzeit. Ob ihr Vater und ihre Mutter tatsächlich verheiratet gewesen waren, gehörte zu den vielen Dingen, bei denen Karen sich nicht ganz sicher war, obwohl ihre Mutter sich
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