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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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der Zeit selbst, sondern im Geist des Menschen, der beobachtet. Jedenfalls sieht Karen das Fahrrad und sieht den Tod ihrer Mutter und bricht weinend zusammen, und Tante Vi und Onkel Vern sind erst verstört und dann ärgerlich und sagen, daß sie froh sein sollte, froh und glücklich, und daß sie ein undankbares Mädchen ist, und sie kann es nicht erklären.
    Es gab eine Beerdigung, an der aber nur wenige Leute teilnahmen. Ein paar Lehrer von der alten Schule ihrer Mutter, ein paar Freundinnen von Tante Vi. Karens Großmutter war nicht da, aber das verwunderte Karen nicht weiter – ihre Großmutter wäre in der Stadt fehl am Platz gewesen. Es gab aber auch noch einen anderen Grund – Schlaganfall , sagte Tante Vi, und Pflegeheim, mit jener Stimme, die ihr die Sympathien anderer Leute eintragen sollte –, aber diese Worte bedeuteten Karen nichts, und sie wollte sie nicht hören, und deshalb jagte sie sie aus ihrem Kopf. Sie trug ein marineblaues Kleid, weil Tante Vi auf die schnelle nichts Schwarzes hatte finden können – obwohl sie es, wie sie am Telefon sagte, eigentlich hätte kommen sehen müssen. Karen durfte ihre Mutter nicht im Sarg sehen, weil Tante Vi sagte, es sei ein zu schockierender Anblick für ein kleines Mädchen, aber Karen wußte sowieso, wie sie aussehen würde. So wie sie ausgesehen hatte, als sie noch lebendig war, bloß ein bißchen mehr noch.
     
    Onkel Vern und Tante Vi haben einen Teil des Kellers ausgebaut. Sie haben die Betonwände mit Regipsplatten verkleiden lassen und den Fußboden mit Linoleum und einem Plüschteppich ausgelegt. Sie haben dort unten einen Hobbyraum eingerichtet, in dem man sich entspannen kann. Es gibt eine Bar mit Barhockern, und ein Damespiel für Karen, und einen Fernseher. Es ist der zweite Fernseher, den sie gekauft haben; der erste steht im Wohnzimmer. Karen sieht am liebsten im Hobbyraum fern, weil sie da keinem im Weg ist. Sie muß nicht einmal auf das achten, was sich auf dem Bildschirm abspielt; sie kann einfach für sich sein, im Inneren ihres Kopfes, ohne daß jemand fragt, was sie macht.
    Es ist September, aber draußen, oben, ist es immer noch trocken und heiß. Karen sitzt auf dem Plüschteppich im Hobbyraum, wo es kühler ist, mit nackten Füßen und Shorts und einer ärmellosen Bluse, und sieht sich Kukla, Fran und Ollie an. Kukla, Fran und Ollie sind Puppen, das heißt, zwei von ihnen sind es. Oben klappern Tante Vis Schuhe geschäftigt über den Küchenboden. Karen legt die Arme um die Knie und schaukelt sich langsam vor und zurück. Nach einer Weile steht sie auf und geht zur Bar und läßt sich am Becken ein Glas Wasser einlaufen und tut einen Eiswürfel aus dem kleinen Kühlschrank hinein und setzt sich wieder auf den Teppich.
    Onkel Vern kommt die Treppe herunter. Er hat den Rasen gemäht. Sein Gesicht ist röter als üblich. Schweißgeruch umhüllt ihn wie die Wassertropfen, wenn ein nasser Hund sich schüttelt. Er geht zur Bar und holt sich ein Bier und macht die Flasche auf und trinkt sie halb leer und trocknet sich das nasse Gesicht mit dem Handtuch ab, das neben dem Becken hinter der Bar hängt. Dann setzt er sich auf die Couch. Die Couch ist eine Schlafcouch, falls Gäste kommen, weil Karen das Zimmer hat, das früher das Gästezimmer war. Es wird immer noch »Gästezimmer« genannt, obwohl Karen darin wohnt. Aber sie haben sowieso keine Gäste.
    Karen steht auf. Sie will nach oben gehen, weil sie weiß, was kommen wird, aber sie ist nicht schnell genug. »Komm her«, sagt Onkel Vern. Er klopft mit der Hand auf sein riesiges, haariges Knie, und Karen geht zögernd zu ihm. Er hat es gern, wenn sie auf seinen Knien sitzt. Er findet das väterlich. »Du bist jetzt unser kleines Mädchen«, sagt er liebevoll. Aber er hat sie nicht wirklich lieb, das weiß Karen. Sie weiß, daß sie für ihn eine Enttäuschung ist, weil sie nicht mit ihm redet, weil sie ihn nicht umarmt, weil sie nicht genug lächelt. Es ist sein Geruch, den sie nicht leiden kann. Sein Geruch, und sein grünlich-braunes Licht.
    Sie setzt sich auf Onkel Verns Knie, und er zieht sie höher auf seinen Schoß und schlingt einen seiner roten Arme um sie. Mit der anderen Hand streichelt er ihr Bein. Das tut er oft, sie ist daran gewöhnt; aber dieses Mal kriecht seine Hand höher, zwischen ihre Beine. Kukla, Fran und Ollie reden immer noch mit ihren gekünstelten Stimmen; Kukla ist eine Art Drachen. Karen windet sich ein bißchen, versucht, von den riesigen Fingern fortzukommen,

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