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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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übergibt sich auf den Boden, auf die Füße des Mannes. Charis weiß wieso. Weil das braungrüne Licht jetzt im Körper des kleinen Mädchens ist, dick und klebrig, wie Gänsekacke.
    Es ist aus Onkel Vern herausgekommen und in Karen hineingeflossen, und sie muß es wieder aus sich herausbekommen.
    Die Tür geht auf. Tante Vi steht im Nachthemd da. »Was ist? Was ist hier los?« sagt sie.
    »Ich hab sie gehört«, sagt Onkel Vern. »Sie hat gerufen – ich glaub, sie hat sich den Magen verdorben.«
    »Um Himmels willen«, sagt Tante Vi. »Du hättest wenigstens so viel Verstand haben können, sie ins Bad zu bringen. Ich hol den Putzlappen. Karen, mußt du dich noch mal übergeben?«
    Karen hat keine Sprache, weil Charis alle Worte mitgenommen hat. Karen macht den Mund auf, und Charis wird zurückgesaugt, als würde sie mit einem Staubsauger in ihren gemeinsamen Hals zurückgezogen. »Ja«, sagt sie.
     
    Nach dem dritten Mal weiß Karen, daß es kein Entkommen gibt. Sie kann nichts anderes tun, als sich in zwei Teile spalten; sie kann nichts anderes tun, als sich in Charis verwandeln und aus ihrem Körper herausschweben und Karen beobachten, die ohne Worte zurückbleibt, um sich schlagend und schluchzend. Sie wird ewig so weitermachen müssen, weil Tante Vi sie niemals hören wird, egal was sie sagt. Sie würde am liebsten eine Axt nehmen und Onkel Vern den Kopf abschlagen, und Tante Vi auch, so als wären sie Hühner; und dann würde sie beobachten, wie der graue Rauch ihres Lebens aus ihnen herauskräuselt. Aber sie weiß, daß sie niemals etwas töten könnte. Sie ist nicht hart genug.
    Sie holt den Wünschelknochen aus dem Saum des Vorhangs und schließt die Augen und packt die beiden Stiele des Wünschelknochens und zieht. Sie wünscht sich ihre Großmutter. Ihre Großmutter ist jetzt weit weg, fast wie eine Geschichte, die sie einmal erzählt bekam; sie kann kaum glauben, daß sie je an einem Ort wie der Farm gelebt hat, oder daß es einen solchen Ort auch nur gibt. Aber sie wünscht trotzdem, und als sie die Augen öffnet, ist ihre Großmutter da, sie kommt durch die geschlossene Tür ins Zimmer, in ihrem Overall, die Stirn ein wenig gerunzelt, aber gleichzeitig lächelt sie. Sie kommt auf Karen zu, und Karen fühlt einen kühlen Lufthauch auf ihrer Haut, und die Großmutter hält ihr die knorrigen, alten Hände entgegen, und Karen streckt ihre eigenen Hände aus und berührt sie, und ihre Hände fühlen sich an, als würde Sand auf sie herabrieseln. Es riecht nach Wolfsmilch und Gartenerde. Die Großmutter kommt immer näher; ihre Augen sind hellblau, ihre Wange berührt die von Karen, wie kühle Körner aus trockenem Reis. Dann ist sie wie die Pünktchen in den Comics in der Zeitung, wenn man sie ganz dicht vor die Augen hält, und dann ist sie nur ein Wirbel in der Luft, und dann ist sie fort.
     
    Aber ein Teil ihrer Macht bleibt da, in Karens Händen. Ihre heilende Macht, ihre tötende Macht. Nicht genug, um Karen aus der Falle zu befreien, aber genug, um sie am Leben zu halten. Sie betrachtet ihre Hände und sieht einen Hauch von Blau.
    Sie muß warten. Sie muß warten wie ein Stein, bis es Zeit ist. Genau das tut sie. Sobald Onkel Vern sie berührt, spaltet sie sich in zwei Teile, den Rest der Zeit wartet sie.
    Ihre Großmutter ist tot, tot für dieses Leben, obwohl Karen sie gesehen hat und weiß, daß es keinen wirklichen Tod gibt. Die Bibel kommt in einer großen Schachtel, an Karen adressiert, und Karen tut sie in den Koffer unter ihrem Bett, der für den Augenblick bereitsteht, in dem sie von hier Weggehen kann. Ihre Großmutter hat ihr die Farm hinterlassen, aber weil Karen nicht alt genug ist, kann sie sie nicht haben oder auch nur hinfahren, obwohl sie gerne möchte. Onkel Vern und Tante Vi sind ihr Vormund. Sie haben die Kontrolle.
    Als sie Brüste bekommt und Haare unter den Armen und an den Beinen und dazwischen, und ihre erste Periode, läßt Onkel Vern sie in Ruhe. Es gibt jetzt eine Leere zwischen ihnen, aber sie ist nicht wie eine Abwesenheit. Sie ist eine Anwesenheit, transparent, aber dicker als Luft. Onkel Vern hat jetzt Angst vor ihr, er hat Angst davor, was sie tun oder sagen könnte; er hat Angst davor, an was sie sich erinnert, er hat Angst, verurteilt zu werden. Vielleicht liegt es daran, daß ihre Augen nicht mehr ängstlich sind, nicht mehr leer oder bittend. Ihre Augen sind Steine. Wenn sie ihn mit ihren steinernen Augen ansieht, ist es, als würde sie durch seine Rippen

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