Die Räuberbraut
Der Himmel weiß, daß es in der Familie liegt! Sag nie wieder so was Schlimmes über deinen Onkel! Er liebt dich wie eine Tochter! Willst du ihn ruinieren?« Sie fängt an zu weinen. »Bete zu Gott, daß er dir vergibt!« Dann verändert sich ihr Gesicht aufs neue. Sie trocknet sich die Augen, sie lächelt. »Wir werden einfach vergessen, daß du das gesagt hast, Liebes«, sagt sie. »Wir werden es beide vergessen. Ich weiß, daß es schwer für dich gewesen ist. Schließlich hast du nie einen Vater gehabt.«
Was kann man danach noch machen? Nichts, überhaupt nichts. Onkel Vern weiß, daß Karen ihn verraten hat. Er ist netter denn je zu Tante Vi. Er ist sogar nett zu Karen, vor anderen Leuten; aber auf eine irgendwie traurige Art, als müsse er ihr etwas verzeihen. Wenn Tante Vi nicht hinsieht, starrt er Karen über den Tisch hinweg an, und die Augen in seinem Gesicht, das wie ungekochtes Rindfleisch aussieht, leuchten triumphierend. Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen, will er ihr damit sagen. Sie hört die Worte genauso deutlich, als hätte er sie ausgesprochen. Für den Augenblick geht er ihr aus dem Weg, er stellt ihr nicht mehr im ganzen Haus nach, er wartet. Seine Finger jucken danach, sie zu fassen zu kriegen, aber nicht mehr mit bettelndem Geflüster. Er wird nicht mehr fragen, ob sie ihn lieb hat, er ist jetzt eher so, wie Karens Mutter immer war, bevor sie anfing zu schreien und nach dem Besenstiel zu greifen. Diese unheilvolle Windstille, diese Weichheit.
Karen schläft mit dem Kopf unter dem Kissen, weil sie nicht hören und nicht sehen will; aber sie schlafwandelt wieder, mehr denn je. Sie wird im Wohnzimmer wach, wo sie versucht, die Verandatür zu öffnen, oder in der Küche, wo sie am Griff der Hintertür rüttelt. Aber Tante Vi schließt alle Türen ab.
Karen sitzt kerzengerade in ihrem Bett, das Kopfkissen an die Brust gedrückt. Ihr Herz rast vor Entsetzen. Ein Mann steht in ihrem dunklen Schlafzimmer; es ist Onkel Vern, sie kann sein Gesicht in dem Licht sehen, das vom Flur hereinfällt, bevor er die Tür leise zumacht. Seine Augen sind offen, aber er schlafwandelt; er hat seinen gestreiften Schlafanzug an, seine Augen haben einen glasigen Blick. Man darf Schlafwandler niemals wecken, hat ihre Großmutter immer gesagt. Es unterbricht ihre Reise. Onkel Vern schlafwandelt lautlos zu Karens Bett. Mit ihm kommt der Geruch nach schalem Schweiß und ranzigem Fleisch. Er kniet sich hin, und das Bett schwankt wie ein Boot, er schubst, und Karen kippt nach hinten. »Du bist ein kleines Miststück, ein kleines Miststück«, flüstert er leise. »Ein gemeines kleines Miststück.« Er redet im Schlaf.
Dann wirft er sich auf Karen und drückt seine schlaffe Hand auf ihren Mund und spaltet sie in zwei Teile. Er spaltet sie genau in der Mitte, und ihre Haut platzt auf wie die trockene Haut eines Kokons, und Charis fliegt heraus. Ihr neuer Körper ist leicht wie eine Feder, leicht wie Luft. Er empfindet keinen Schmerz. Charis fliegt zum Fenster und hinter die Vorhänge und bleibt dort und beobachtet durch den Stoff hindurch, mitten durch das Muster aus rosa- und orangefarbenen Rosen. Sie sieht ein blasses kleines Mädchen, sein Gesicht ist verzerrt und tränenüberströmt, seine Nase und seine Augen sind naß, als würde es ertrinken – es schnappt nach Luft, geht unter, schnappt nach Luft. Auf dem kleinen Mädchen liegt eine dunkle Masse und macht sich an ihm zu schaffen wie ein Tier, das ein anderes Tier frißt. Ihr ganzer Körper – denn Charis kann mitten durch die Dinge hindurchsehen, durch die Laken, durch das Fleisch, bis auf die Knochen – ihr Körper besteht aus etwas Schlüpfrigem und Gelbem, wie das Fett in einem ausgenommenen Huhn. Charis beobachtet verwundert, wie der Mann grunzt, wie das kleine Mädchen zappelt und zuckt, als hätte ihm jemand einen Haken durch den Hals gestoßen. Charis weiß natürlich nicht, daß sie Charis ist. Sie hat noch keinen Namen.
Der Mann setzt sich auf, legt die Hand auf sein Herz, schnappt jetzt ebenfalls nach Luft. »So«, sagt er, als hätte er etwas vollendet, eine Aufgabe. »Halt den Mund, ich hab dir nicht wehgetan. Halt den Mund! Wenn du deine dreckige kleine Klappe nicht hältst, wenn du auch nur ein Wort sagst, bring ich dich um!« Dann stöhnt er, so wie er es morgens im Badezimmer tut. »O mein Gott, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!«
Das kleine Mädchen rollt sich auf die Seite. Während Charis zusieht, beugt es sich vor und
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