Die Räuberbraut
hindurchgreifen und sein Herz zusammendrücken, bis es fast stehenbleibt. Er sagt, er hat es am Herzen, er nimmt Pillen, aber sie wissen beide, daß es etwas ist, was sie ihm antut. Jedesmal, wenn sie ihn ansieht, empfindet sie Abscheu und einen tiefen Ekel, und Widerwillen. Sie ist angewidert von ihm, aber auch von ihrem eigenen Körper, weil er immer noch seinen Schmutz in sich trägt. Sie muß sich eine Möglichkeit einfallen lassen, innen wieder sauber zu werden.
Wenn sie diese Dinge fühlt, muß sie sie in sich versiegeln. Sie muß, sonst würden sie sie vernichten. Sie spaltet sich in zwei Teile und bleibt im kühleren Teil, im klareren Teil ihrer selbst. Sie hat jetzt einen Namen für diesen Teil: sie ist Charis. Sie hat ihren neuen Namen in der Bibel gefunden, mit einer Nadel: »Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« So stand es unter den Charismen, und daher hatte sie Charis. Sie kann diesen neuen Namen natürlich nur für sich benutzen. Alle anderen nennen sie immer noch Karen.
Charis ist heiterer als Karen, weil die schlimmen Dinge zurückgeblieben sind, bei der kleinen Karen. Sie ist höflich zu ihrer Tante, aber distanziert. Eines Tages, als sie über achtzehn ist, fragt sie die beiden, was sie mit dem Geld ihrer Großmutter gemacht haben. Ihr Onkel sagt, er hat es für sie investiert, und sie kann alles haben, wenn sie einundzwanzig ist, und bis dahin kann ein Teil davon für ihre Ausbildung verwendet werden. Tante Vi tut so, als wäre dies ein Akt überwältigender Großzügigkeit, als gehörte das Geld ihnen, als schenkten sie es ihr. Aber trotzdem sind beide erleichtert, als sie mit dem Studium anfängt und in die McClung Hall zieht. Ihre steinernen Augen machen Tante Vi nervös; und was Onkel Vern angeht, so weiß er nicht, woran sie sich erinnert. Er hofft, daß sie alles vergessen hat, ist sich aber nicht sicher.
Sie erinnert sich an alles, oder vielmehr, Karen erinnert sich an alles; aber Karen wurde weggelegt, weggepackt. Charis erinnert sich nur, wenn sie Karen hervorholt, aus dem Koffer unter ihrem Bett, in dem sie sie verstaut hat. Sie tut das nicht oft. Karen ist immer noch klein, aber Charis wird allmählich erwachsen.
Charis wurde einundzwanzig, aber kein Wort über das Geld ihrer Großmutter. Es war ihr egal. Sie hätte sowieso kein Geld von ihnen genommen, weil es, obwohl es ihr Geld war, in ihren Händen gewesen war; es war schmutzig. Außerdem hätte sie es nicht kampflos bekommen.
Sie wollte nicht kämpfen. Sie wollte einfach nur Weggehen, irgendwohin, und sobald sie das Gefühl hatte, bereit zu sein, verschwand sie einfach aus dem Blickfeld. Aus ihrem Blickfeld. Es war nicht so schwer, wenn man wußte, daß niemand einen suchen würde. Sie verließ die Universität, ohne ihren Abschluß gemacht zu haben – sie fiel sowieso durch die meisten Kurse, weil es ihnen nicht gelang, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln – und ging auf Reisen. Sie trampte, sie nahm den Bus. Sie arbeitete als Kellnerin, sie arbeitete in einem Büro. Eine Zeitlang lebte sie in einem Ashram an der Westküste, eine Zeitlang auf einer Farmkommune in Saskatchewan. Sie tat verschiedene Dinge.
Einmal fuhr sie zur Farm, zur Farm ihrer Großmutter, weil sie sie sehen wollte. Aber es war keine Farm mehr, sie war zu einem Neubaugebiet geworden. Charis versuchte, sich nichts daraus zu machen, weil nichts, was war oder gewesen war, je vergehen konnte, und die Farm war immer noch in ihr, sie gehörte immer noch ihr, weil Orte den Menschen gehörten, die sie liebten. Als sie sechsundzwanzig war, legte sie ihren alten Namen ab. Viele Leute änderten damals ihre Namen, weil Namen nicht nur Etiketten waren, sie waren auch Behälter. Karen war ein Lederbeutel, ein grauer Lederbeutel. Charis suchte alles zusammen, was sie nicht mehr haben wollte, und stopfte es in diesen Namen, diesen Lederbeutel, und band ihn zu. Sie warf so viele alte Wunden und Gifte weg, wie sie konnte. Sie behielt nur die Dinge von sich, die sie liebte oder brauchte.
Sie tat das alles im Inneren ihres Kopfes, weil die Ereignisse dort ebenso real sind wie die Ereignisse sonstwo. Immer noch im Inneren ihres Kopfes ging sie zum Ufer des Lake Ontario und warf den Lederbeutel ins Wasser.
Das war das Ende von Karen. Karen war fort. Aber weil der See im Inneren von Charis war, war Karen auch dort. Tief unten.
36
Bis jetzt, bis zu dieser windigen Nacht mit den knarrenden Ästen. Karen kommt zurück, Charis kann sie nicht länger fernhalten. Sie hat
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