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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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das morsche Leder zerrissen, sie ist an die Wasseroberfläche gestiegen, sie ist einfach durch die Schlafzimmerwand gekommen, sie steht mitten im Zimmer. Aber sie ist kein neunjähriges Mädchen mehr. Sie ist erwachsen geworden, sie ist groß und dünn und bleichsüchtig geworden, wie eine Pflanze in einem Keller, die zuwenig Licht bekommt. Ihre Haare sind nicht mehr hell, sondern dunkel. Ihre Augenhöhlen sind ebenfalls dunkel, dunkel verfärbte Prellungen. Sie sieht nicht mehr wie Karen aus. Sie sieht aus wie Zenia.
    Sie kommt auf Charis zu und beugt sich vor und verschmilzt mit ihr, und jetzt ist sie im Inneren von Charis’ Körper. Sie hat die alte Scham mitgebracht, die sich warm anfühlt.
    Charis muß etwas gesagt oder sonst ein Geräusch von sich gegeben haben, denn Billy ist jetzt wach. Er hat sich umgedreht, er zieht sie an sich, er küßt sie, er wühlt sich mit der alten Dringlichkeit in sie hinein. Das bin nicht ich, möchte Charis sagen, weil sie nicht mehr die Herrin ihres eigenen Körpers ist. Diese andere Frau hat ihn übernommen; aber Charis schwebt nicht davon, beobachtet nicht von ihrem Platz hinter dem Vorhang. Auch sie ist im Inneren dieses Körpers, sie kann alles fühlen. Sie kann fühlen, wie der Körper sich bewegt, reagiert; sie kann fühlen, wie der Genuß durch sie hindurchschießt wie Elektrizität, sich in hundert Farben entfaltet, wie ein brennender Pfauenschwanz. Sie vergißt Karen, sie vergißt sich selbst. Alles in ihr ist miteinander verschmolzen.
    »He, das war anders«, sagt Billy. Er küßt ihre Augen, ihren Mund; sie liegt in seinen Armen, schlaff wie eine Kranke; sie kann sich nicht bewegen. Das war nicht ich, denkt sie. Aber sie war es, zum Teil. Was sie fühlt, ist schwierig: Schuld, Erleichterung. Schmerz. Groll, weil Billy die Macht hat, das zu tun; Groll auch, weil sie so viele Jahre gelebt hat, ohne etwas davon zu wissen.
    Tief in ihrem Inneren, tief im Inneren ihres Körpers, bewegt sich etwas Neues.
     
    (Das war die Nacht, in der August empfangen wurde. Charis ist sich ganz sicher. Sie hat natürlich immer gewußt, wer Augusts Vater war. Es gab keine andere Möglichkeit. Aber ihre Mutter? Sie selbst und Karen, die sich einen gemeinsamen Körper teilten? Oder war es auch Zenia?]
    Am Morgen hat sie wieder mehr das Gefühl, sie selbst zu sein, Charis. Sie weiß nicht, wo Karen hingegangen ist. Nicht zurück in die Tiefe des Sees; es fühlt sich nicht so an. Möglicherweise versteckt sich Karen irgendwo in ihrem gemeinsamen Körper; aber wenn sie die Augen schließt und mit ihrem geistigen Auge sucht, in ihrem Inneren hierhin und dahin blickt, kann sie sie nicht finden, obwohl da ein dunkler Fleck ist, ein Schatten, etwas, das sie nicht sehen kann. Wenn sie und Billy miteinander schlafen, denkt sie nicht darüber nach, ob sie Karen ist, oder Charis. Sie denkt, daß sie Zenia ist.
     
    »Versprich mir, daß sie bald verschwindet«, sagt Billy. Er ist jetzt nicht mehr ärgerlich. Er ist beharrlich, inständig, fast verzweifelt.
    »Sie geht ja bald«, sagt Charis, als würde sie ein Kind trösten. Sie liebt Billy jetzt mehr, in mancher Hinsicht; aber in anderer Hinsicht weniger. Sobald die Gier dazukommt, die Gier des Körpers, beeinträchtigt sie das reine Geben. Charis will jetzt Billys Körper, den Körper um seiner selbst willen, nicht nur als Manifestation seines Wesens. Statt einfach nur für ihn zu sorgen, will sie jetzt etwas zurückhaben. Vielleicht ist das falsch; sie weiß es nicht.
    Sie liegen im Bett, es ist Morgen, sie streichelt sein Gesicht. »Bald, bald«, singt sie, gurrt sie, um ihn zu trösten. Sie denkt nicht mehr, daß sein Körper Zenia will. Wie könnte er Zenia wollen, jetzt, wo Charis ihn will?
     
    Es ist Mitte Dezember. Der Boden ist gefroren, die Blätter sind von den Bäumen gefallen, der Wind nimmt an Stärke zu. Heute kommt er geradewegs vom See, stürzt sich durch die Bäume und die Sträucher, zerrt an den Plastikplanen, die Charis mit einem Stapler vor die Fenster geheftet hat, damit es nicht so zieht. Es gibt keine Sturmfenster für dieses Haus, und der Hauswirt hat nicht die Absicht, ihnen welche zu kaufen, weil die Häuser auf der Insel seiner Meinung nach sowieso bald allesamt eingeebnet werden, wozu also Geld ausgeben. Isoliert sind die Fenster ohnedies nicht.
    Charis fängt an, die Nachteile zu sehen, die mit dem Leben hier verbunden sind. Jetzt schon stehen zwei Häuser in ihrer Straße leer, die Fenster sind mit Brettern vernagelt.

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