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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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trinken und rauchen, aber er fängt an, es zu tun, mehr als früher. Eines Nachmittags macht er seine Tür auf und hält Roz in der Eingangshalle fest.
    »Diese Männer sind Juden«, flüstert er. Bierdunst schlägt ihr entgegen. »Wir haben unser Leben für dieses Land geopfert, und jetzt servieren sie es den Juden auf einem Silbertablett.«
    Roz ist wie elektrisiert. Sie läuft los, um die Onkel zu suchen und sie zu fragen. Wenn sie wirklich Juden sind, könnte sie versuchen, sie zu bekehren, und Schwester Conception damit überraschen.
    »Ich, ich bin ein Bürger der Vereinigten Staaten«, sagt Onkel George und lacht ein bißchen. »Ich hab einen Paß, der das beweist. Aber Joe, der ist Jude.«
    »Ich bin Ungar, er ist Pole«, sagt Onkel Joe. »Ich bin Jugoslawe, er ist Holländer. Dieser Paß hier sagt, daß ich Spanier bin. Und dein Vater, der ist ein halber Deutscher. Aber die andere Hälfte, die ist jüdisch.«
    Dies ist ein Schock für Roz. Sie ist enttäuscht – keine spirituellen Triumphe für sie – und dann schuldbewußt: was, wenn die Schwestern das herausbekommen? Schlimmer noch, wenn sie es die ganze Zeit gewußt und ihr nur nichts davon gesagt haben? Sie stellt sich die boshafte Schadenfreude auf Julia Wardens Gesicht vor, das Getuschel, das hinter ihrem Rücken losgehen wird.
    Anscheinend hat sie ein bestürztes Gesicht gemacht, denn Onkel George sagt: »Besser ein Jude als ein Mörder. Sie haben da drüben sechs Millionen ermordet.«
    »Fünf«, sagt Onkel Joe. »Der Rest war was anderes. Zigeuner und Homos.«
    »Fünf, sechs, wer zählt schon so genau?«
    »Sechs was?« sagt Roz.
    »Juden«, sagt Onkel George. »Sie haben sie in Öfen verbrannt, sie haben sie bergeweise aufgestapelt. Kleine Rozzie-lind, das willst du lieber nicht wissen. Aber wenn die da drüben dich in die Finger bekommen hätten, hätten sie einen Lampenschirm aus dir gemacht.«
    Er erklärt Roz nicht, daß sie nur ihre Haut genommen hätten. Roz stellt sich ihren ganzen Körper als Lampenschirm vor, mit einer Glühbirne drin, so daß das Licht aus ihren Augen und Nasenlöchern und Ohren und ihrem Mund leuchtet. Sie scheint ein entsetztes Gesicht gemacht zu haben, denn Onkel Joe sagt: »Hör auf, dem Kind Angst zu machen. Das alles ist vorbei.«
    »Warum?« sagt Roz. Aber keiner der beiden antwortet.
    »Es ist erst vorbei, wenn’s vorbei ist«, sagt Onkel George düster.
     
    Roz hat das Gefühl, daß jemand sie angelogen hat. Nicht nur in bezug auf ihren Vater, sondern auch in bezug auf den Krieg, und in bezug auf Gott. Die verhungernden Waisenkinder waren schlimm genug, aber sie waren nicht die ganze Geschichte. Was ist sonst noch alles passiert, mit den Öfen und den Leichenbergen und den Lampenschirmen, und warum hat Gott es zugelassen?
    Sie will nicht mehr darüber nachdenken, weil es zu traurig und verwirrend ist. Statt dessen fängt sie an, Kriminalromane zu lesen. Sie leiht sie sich von Miss Hines und liest sie abends, im Licht der Straßenlampe, das durch ihr Dachfenster fällt. Sie liebt die Möbel und die Kleider in diesen Romanen, und die Butler und die Dienstmädchen. Aber am meisten liebt sie die Tatsache, daß es für jeden Tod einen Grund gibt, und immer nur einen Mörder auf einmal, und daß am Ende alles herauskommt und der Mörder immer erwischt wird.

44
    Roz kommt in erwartungsvoller Stimmung aus der Schule nach Hause. Irgendwas liegt in der Luft; sie weiß nicht genau, was es ist, aber sie weiß, daß etwas los ist. Irgendwas wird passieren.
    Letzte Woche hat ihre Mutter beim Frühstück gesagt: Mrs. Morley ist gefeuert worden. Was bedeutete das? Daß sie ihren Job verloren hat, aber Roz hatte ein Bild vor Augen, in dem Mrs. Morley in Flammen stand, wie eine Märtyrerin aus längst vergangener Zeit. Nicht etwa, daß sie wollte, daß Mrs. Morley verbrannte. Sie mochte sie und ihre Kleider, ihre Creme-Proben, ihren falschen Schmuck, und vor allem ihre Schuhe.
    Seit diesem Tag schlurft Mrs. Morley in ihrem gefütterten Morgenmantel aus rosa Satin im Haus herum. Ihre Augen sind verquollen, ihr Gesicht ist ungeschminkt; das Klirren ihrer üblichen Girlanden aus Halsketten und Armbändern ist verstummt. Eigentlich darf sie nicht in ihrem Zimmer essen, aber sie tut es trotzdem, aus Papiertüten, die Mr. Carruthers ihr mitbringt; in ihrem Abfalleimer liegen Brotkrusten und Apfelkerngehäuse, aber obwohl Roz’ Mutter wissen muß, was vor sich geht, klopft sie nicht an Mrs. Morleys Tür, um Anweisungen zu

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