Die Räuberbraut
erteilen, wie sie es sonst so gerne tut. Manchmal enthalten die Papiertüten auch kleine, flache Flaschen, die nicht im Abfalleimer auftauchen. An den späten Nachmittagen geht Mrs. Morley, immer noch im Morgenmantel, hinunter in die Küche, um kurze, spannungsgeladene Gespräche mit Roz’ Mutter zu führen. Was soll sie denn bloß machen? fragt sie. Roz’ Mutter preßt die Lippen zusammen und sagt, daß sie es nicht weiß.
Diese Gespräche drehen sich um Geld: ohne ihre Arbeit wird Mrs. Morley die Miete nicht bezahlen können. Roz hat Mitleid mit Mrs. Morley, merkt aber auch, daß ihre Gefühle für sie jetzt weniger freundlich sind, denn Mrs. Morley jammert und quengelt nur noch, was Roz ihr übelnimmt. Wenn die Mädchen in der Schule so sind, werden sie entweder von den anderen Kindern geschubst oder geohrfeigt, oder von den Nonnen in die Ecke gestellt.
»Sie sollte sich zusammenreißen«, sagt Roz’ Mutter beim Essen zu Roz’ Vater. Früher wäre Roz das Publikum für derartige Bemerkungen gewesen, aber jetzt ist sie nur noch der Lauscher an der Wand.
»Hab doch ein Herz, Aggie«, sagt Roz’ Vater. Niemand sonst nennt ihre Mutter Aggie, nicht vor ihr.
»Ein Herz haben ist ja schön und gut«, sagt Roz’ Mutter. »Aber es bringt kein Essen auf den Tisch.«
Es ist jedoch Essen auf dem Tisch. Rindergulasch, Kartoffelpüree, Soße und gekochter Kohl. Roz ißt es.
Abgesehen davon, daß Mrs. Morley gefeuert wurde, liegt Miss Hines mit einer Erkältung im Bett. »Hoffen wir zu Gott, daß keine Lungenentzündung daraus wird«, sagt Roz’ Mutter. »Sonst haben wir zwei nutzlose Frauenzimmer am Hals.«
Roz geht in Mrs. Morleys Zimmer. Mrs. Morley liegt im Bett und ißt ein Sandwich; sie stopft es unter die Decke, lächelt jedoch, als sie sieht, daß es nur Roz ist. »Süße, du solltest immer anklopfen, bevor du das Zimmer einer Dame betrittst«, sagt sie.
»Ich hab eine Idee«, sagt Roz. »Sie könnten Ihre Schuhe verkaufen.« Sie meint die aus rotem Satin mit den glitzernden Steinen. Sie müssen schrecklich teuer sein.
Mrs. Morleys Lächeln gerät ins Wanken und bricht dann ganz in sich zusammen. »Ach, Süße«, sagt sie. »Wenn ich das nur könnte.«
Als Roz um die Ecke biegt, bietet sich ihr ein seltsamer Anblick. Der Rasen vor dem Haus ist wie alle anderen Rasen voller Schnee, aber auf dem Schnee liegen viele bunte Sachen herum. Als sie näher kommt, sieht sie, um was es sich handelt: es sind Mrs. Morleys Kleider, Mrs. Morleys Strümpfe, Mrs. Morleys Handtaschen, Mrs. Morleys Büstenhalter und Schlüpfer. Mrs. Morleys Schuhe. Ein gespenstisches Licht umspielt sie.
Roz geht ins Haus, in die Küche. Ihre Mutter sitzt kerzengerade und mit weißem Gesicht am Küchentisch; ihre Augen sind still wie Steine. Vor ihr steht eine unberührte Tasse Tee. Miss Hines sitzt auf Roz’ Stuhl und tätschelt ihrer Mutter mit kleinen, flatternden Bewegungen die Hand. Sie hat einen rosa Fleck auf jeder Wange. Sie sieht schuldbewußt aus, aber auch erregt.
»Deine Mutter hat einen Schock«, sagt sie zu Roz. »Möchtest du ein Glas Milch, Liebes?«
»Was machen Mrs. Morleys Sachen auf dem Rasen?« sagt Roz.
»Was hätte ich denn tun sollen?« sagt Miss Hines zu niemandem im besonderen. »Ich konnte nicht anders, als sie sehen. Sie hatten die Tür nicht mal richtig zugemacht.«
»Wo ist sie?« fragt Roz. »Wo ist Mrs. Morley?« Mrs. Morley muß weggegangen sein, ohne die Miete bezahlt zu haben. »Sich aus dem Staub machen«, würde ihre Mutter dazu sagen. Mieter haben sich schon öfter auf diese Weise aus dem Staub gemacht und ihre Sachen zurückgelassen, aber noch nie auf dem Rasen.
»Sie betritt dieses Haus nie wieder«, sagt Roz’ Mutter.
»Kann ich ihre Schuhe haben?« sagt Roz. Es tut ihr leid, daß sie Mrs. Morley nicht Wiedersehen wird, aber das ist noch lange kein Grund, die Schuhe verkommen zu lassen.
»Du wirst ihre schmutzigen Sachen nicht anrühren«, sagt ihre Mutter. »Du wirst sie mit keinem Finger anrühren. Sie gehören auf den Müll, genau wie sie selbst. Diese Hure! Wenn der Krempel bis morgen nicht verschwunden ist, verbrenn ich ihn im Ofen.«
Miss Hines ist schockiert über diese Ausdrucksweise. »Ich werde für sie beten«, sagt sie.
»Ich nicht«, sagt Roz’ Mutter.
Roz bringt nichts von all dem mit ihrem Vater in Verbindung, bis er auftaucht, später, pünktlich zum Abendessen. Allein die Tatsache, daß er pünktlich kommt, ist bemerkenswert; normalerweise tut er
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