Die Räuberbraut
sagt: »Früher hatte ich einen Goldzahn an der Stelle. Jetzt trage ich ihn immer in der Tasche.« Das tut er tatsächlich. Er holt ein kleines hölzernes Kästchen heraus, rot, mit einem Muster aus winzigen, grünen Blumen, und macht es auf, und da ist der Goldzahn.
»Warum?« sagt Roz.
»Weil man besser keinen Goldzahn im Mund rumliegen hat. Die Leute könnten auf dumme Gedanken kommen«, sagt Onkel Joe.
Roz’ Mutter kommt mit zwei Papiertüten voller Lebensmittel herein, die sie auf die Anrichte stellt. Sie sieht erhitzt und erfreut aus. Sie sagt kein Wort über das Trinken, kein Wort über das Rauchen. »Das hier sind Freunde deines Vaters!« sagt sie zu Roz. »Sie waren zusammen im Krieg. Er kommt, er wird bald hier sein.« Dann läuft sie wieder aus dem Haus; sie muß noch zum Metzger, sagt sie, weil es ein besonderer Anlaß ist. Besondere Anlässe verlangen Fleisch.
»Was habt ihr im Krieg gemacht?« fragt Roz, die begierig darauf ist, mehr über ihren Vater zu erfahren.
Die beiden Onkel lachen und sehen sich an. »Wir waren Pferdediebe«, sagt Onkel George.
»Die besten Pferdediebe«, sagt Onkel Joe. »Nein. Dein Vater war der beste. Er konnte dir ein Pferd...«
»Er konnte dir ein Pferd unter dem Hintern wegklauen, ohne daß du es gemerkt hättest«, sagt Onkel George. »Er konnte lügen...«
»Er konnte lügen wie der liebe Gott persönlich.«
»Beiß dir auf die Zunge. Gott lügt nicht.«
»Du hast recht. Gott sagt gar nichts. Aber dein Vater, der hat nicht mal mit der Wimper gezuckt. Er konnte über eine Grenze gehen, als wär sie gar nicht da«, sagt Onkel Joe.
»Was ist eine Grenze?« fragt Roz.
»Eine Grenze ist eine Linie auf einer Karte«, sagt Onkel Joe.
»Eine Grenze ist da, wo es gefährlich wird«, sagt Onkel George. »Eine Grenze ist da, wo man einen Paß braucht.«
»Einen Paß. Siehst du?« sagt Onkel Joe. Er zeigt Roz seinen Paß, mit seinem Foto darin. Dann zeigt er ihr einen anderen, mit demselben Foto, aber einem anderen Namen. Er hat drei davon. Er fächert sie auf wie Spielkarten. Onkel George hat vier.
»Ein Mann mit nur einem Paß ist wie ein Mann mit nur einer Hand«, sagt er feierlich. »Dein Vater hat mehr Pässe als alle anderen. Er ist der Beste, wie ich schon gesagt hab.« Sie heben die Gläser und trinken auf Roz’ Vater.
Roz’ Mutter macht Hühnchen, mit Kartoffelpüree und Soße und Möhren; sie ist fröhlich, fröhlicher, als Roz sie je erlebt hat, und sie drängt die Onkel, noch einmal zuzugreifen. Oder vielleicht ist sie auch gar nicht fröhlich, sondern nervös. Ständig sieht sie auf die Uhr. Roz ist auch nervös: wann wird ihr Vater kommen?
»Er kommt, wenn er kommt«, sagen die Onkel.
Roz’ Vater kommt mitten in der Nacht. Ihre Mutter weckt sie und flüstert: »Dein Vater ist wieder da«, fast so, als wollte sie sich für etwas entschuldigen, und führt Roz im Nachthemd nach unten, und da ist er, er sitzt am Tisch, auf dem dritten Stuhl, der immer für ihn bereitstand. Er sitzt ganz entspannt, er füllt den Raum aus, als wäre er schon immer hier gewesen. Er ist groß und schwer und hat einen Bart und einen Kopf wie ein Bär. Er lächelt und breitet die Arme aus. »Komm und gib Papa einen Kuß.«
Roz sieht sich um: wer ist dieser Papa ? Dann versteht sie, daß er sich selbst meint. Es stimmt, was Julia Warden gesagt hat: ihr Vater ist ein Flüchtling. Sie erkennt es an der Art, wie er spricht.
Roz’ Leben ist jetzt zweigeteilt. Auf der einen Seite sind Roz und ihre Mutter und das Logierhaus und die Nonnen und die anderen Mädchen in der Schule. Diese Seite scheint schon in der Vergangenheit zu liegen, obwohl sie immer noch stattfindet. Es ist die Seite, auf der es hauptsächlich Frauen gibt, Frauen, die Macht haben, was bedeutet, daß sie Macht über Roz haben, denn obwohl Gott und Jesus Männer sind, sind es ihre Mutter und die Nonnen, die das letzte Wort haben, außer natürlich die Priester, aber das ist nur sonntags. Auf der anderen Seite ist ihr Vater, der die Küche mit seinem massigen Körper füllt, seiner lauten Stimme, seinem aus vielen Schichten zusammengesetzten Geruch; er füllt das Haus, er füllt den ganzen Raum in den Blicken ihrer Mutter, so daß Roz an den Rand gedrängt wird, denn ihre Mutter, die immer so unbeugsam war, beugt sich. Sie dankt ab. Sie sagt: »Frag deinen Vater.« Sie sieht Roz’ Vater stumm an, mit demselben schwammigen, kuhäugigen Blick, mit dem die Jungfrau Maria auf den Bildern den kleinen
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