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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sagt Charis. »Kissen lagen auf dem Boden, das Bett war völlig zerwühlt. Schmutzige Kaffeetassen, Kartoffelchips, rumliegende Kleider. Auf dem Tisch lagen Glasscherben, auf dem Teppich auch. Es sah aus wie nach einer Party.«
    »Bist du sicher, daß es dasselbe Zimmer war?« sagt Tony. »Vielleicht ist sie wütend geworden und hat ein paar Gläser zerdeppert.«
    »Sie muß wieder ins Bett gegangen sein«, sagt Roz. »Als du weg warst, Tony.«
    Sie ziehen diese Möglichkeit in Betracht. Charis fährt fort:
    Im Zimmer herrscht ein heilloses Durcheinander. Die geblümten Vorhänge sind halb zugezogen, so als seien sie erst kürzlich geschlossen worden, um das Tageslicht auszusperren. Zenia steigt über die Sachen hinweg, die auf dem Boden herumliegen, setzt sich auf das Sofa und nimmt sich eine von den rund Dutzend Zigaretten, die zwischen den Glasscherben auf dem Couchtisch herumliegen. »Ich weiß, ich sollte nicht rauchen«, sagt sie leise, fast wie zu sich selbst. »Aber das ist jetzt auch egal. Setz dich, Charis. Ich bin froh, daß du da bist.«
    Charis setzt sich in den Sessel. Das hier ist nicht die spannungsgeladene Konfrontation, die sie sich vorgestellt hat. Zenia versucht nicht, ihr auszuweichen; falls überhaupt, scheint sie sich sogar leise zu freuen, daß Charis hier ist. Charis muß sich selbst daran erinnern, daß sie hier ist, um in Erfahrung zu bringen, wo Billy ist, ob er noch lebt oder ob er tot ist. Aber es fällt ihr schwer, sich auf Billy zu konzentrieren; sie kann sich kaum noch daran erinnern, wie er aussah, während Zenia hier in diesem Zimmer vor ihr sitzt. Es ist so seltsam, sie endlich leibhaftig vor sich zu sehen.
    Jetzt lächelt sie ein mattes Lächeln. »Du warst so gut zu mir«, sagt sie. »Ich wollte mich immer dafür entschuldigen, daß ich einfach so weggegangen bin, ohne mich zu verabschieden. Das war sehr rücksichtslos von mir. Aber ich war zu abhängig von dir, ich überließ es dir, mich zu heilen, statt selbst die Energie dafür aufzubringen. Ich mußte einfach weg, irgendwohin, wo ich allein sein konnte, damit ich mich auf mich selbst konzentrieren konnte. Es war – nun ja, es war wie eine Art Botschaft, verstehst du?«
    Charis ist verblüfft. Vielleicht hat sie Zenia all die Jahre verkannt. Oder vielleicht hat Zenia sich verändert. Die Menschen können sich verändern, sie können wählen, sie können sich verwandeln. Das gehört zu ihren festen Überzeugungen. Sie weiß nicht mehr, was sie denken soll.
    »Du hattest gar keinen Krebs«, sagt sie schließlich. Sie meint es nicht als Vorwurf. Aber sie muß sicher sein.
    »Nein«, sagt Zeniä. »Nicht direkt. Aber ich war krank. Es war eine seelische Krankheit. Ich bin auch jetzt krank.« Sie hält inne, aber als Charis nicht nachfragt, fährt sie fort: »Deshalb bin ich zurückgekommen – wegen der staatlichen Gesundheitsfürsorge. Ich könnte mir nirgends sonst eine Behandlung leisten. Sie haben mir gesagt, daß ich sterbe. Sie haben mir sechs Monate gegeben.«
    »Wie schrecklich«, sagt Charis. Sie konzentriert sich auf Zenias Umrisse, um zu sehen, welche Farbe ihr Licht hat, aber sie erhält keine Werte. »Ist es Krebs?«
    »Ich weiß nicht, ob ich’s dir sagen soll«, sagt Zenia.
    »Schon gut«, sagt Charis, denn was ist, wenn Zenia diesmal die Wahrheit sagt? Was, wenn sie wirklich sterben muß? Um die Augen herum sieht sie wirklich grau aus. Charis kann ihr zumindest zuhören.
    »Also, um die Wahrheit zu sagen, ich habe Aids«, sagt Zenia mit einem Seufzer. »Ich bin sehr dumm gewesen. Ich hatte vor ein paar Jahren eine dumme Angewohnheit. Ich hab’s mir von einer dreckigen Nadel geholt.«
    Charis bleibt die Luft weg. Das ist ja schrecklich! Und was ist jetzt mit Larry? Wird er auch Aids bekommen? Roz! Roz! Komm schnell! Aber was könnte Roz schon tun?
    »Ich hätte nichts dagegen, eine Weile irgendwo zu leben, wo es friedlich ist«, sagt Zenia. »Nur um Ordnung in meinen Kopf zu bringen, bevor, du weißt schon. Auf der Insel zum Beispiel.«
    Charis spürt das vertraute Zupfen, die alte Versuchung. Vielleicht gibt es keine Hoffnung für Zenias Körper, aber der Körper ist nicht der einzige Faktor. Sie könnte Zenia für eine Weile zu sich nehmen, so wie damals. Sie könnte ihr helfen, sich auf den Übergang vorzubereiten, sie könnte sie mit Licht umhüllen, sie könnten zusammen meditieren...
    »Aber vielleicht mach ich auch einfach einen Abgang«, sagt Zenia leise. »Pillen oder so was. Mir kann sowieso keiner

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