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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Charis.
    Shanita schüttelt die Haare – die sie heute in einer einzigen, langen, schimmernden Locke trägt – und wirft Charis einen höhnischen Blick zu. »Dreimal darfst du raten«, sagt sie.
     
    Am Nachmittag machen sie eine Pause, und Shanita kocht einen Zitronentee, den sie noch auf Lager haben, und legt die Karten für Charis. »Ein wichtiges Ereignis, ziemlich bald«, sagt sie. »Ich seh – deine Karte ist die Königin der Kelche, nicht wahr? Du wirst von der Hohepriesterin gekreuzt. Sagt dir das was?«
    »Ja«, sagt Charis. »Werd ich gewinnen?«
    »Was hat denn dieses gewinnen zu bedeuten?« sagt Shanita und lächelt sie an. »Es ist das erste Mal, daß ich dieses Wort aus deinem Mund hör! Vielleicht ist es höchste Zeit, daß du anfängst, es zu benutzen.« Sie sieht sich die Karten noch mal an, deckt die nächsten auf. »Ja, sieht nach gewinnen aus«, sagt sie. »Jedenfalls verlierst du nicht. Aber! Da ist ein Tod. Führt kein Weg dran vorbei.«
    »Nicht Augusta!« sagt Charis und versucht, selbst zu sehen: der Turm, die Königin der Schwerter, der Zauberer, der Narr. Aber Karten sind etwas, was sie noch nie konnte.
    »Nein, nein, hat nicht das geringste mit Augusta zu tun«, sagt Shanita. »Jemand, der älter ist. Älter als sie, mein ich. Aber irgendwie mit dir verwandt. Du wirst diesen Tod nicht eintreten sehen, aber du wirst diejenige sein, die ihn herausfindet.«
    Charis ist entsetzt. Billy, es muß Billy sein. Sie wird zu Zenia gehen, und Zenia wird ihr sagen, daß Billy tot ist. Genau das, was sie immer befürchtet hat. Aber es wird immer noch besser sein, als nichts zu wissen. Und es hat auch eine gute Seite, denn wenn es dann schließlich an ihr ist, den Übergang zu machen, und sie sich im dunklen Tunnel befindet, in der Höhle, auf dem Boot, und das Licht in der Ferne vor sich sieht, wird es Billys Stimme sein, die sie als erstes hört. Er wird derjenige sein, der ihr hilft, auf der anderen Seite. Sie werden zusammen sein, und er könnte sie nicht auf diese Weise empfangen, wenn er nicht als erster gestorben wäre.
     
    Es hilft ihr zu wissen, daß die Hohepriesterin sie kreuzen wird. Außerdem paßt es, denn jetzt hat sie endlich den auserwählten Tag erreicht, den richtigen Tag für die Konfrontation mit Zenia. Sie hat es gewußt, sobald sie aufgestanden war, sobald sie ihre tägliche Nadel in die Bibel gepiekst hatte. Die Nadel wählte die Geheime Offenbarung, 17, das Kapitel über die Große Hure: Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand , voll Gräuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei , und an ihrer Stirn geschrieben einen Namen , ein Geheimnis: Babylon , die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.
    Hinter Charis’ geschlossenen Lidern nahm die Form, der Umriß, Gestalt an – karmesinrot an den Rändern, mit sprühenden Funken eines diamantharten Lichts. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen; aber wer konnte es anderes sein als Zenia?
    »Deshalb hab ich gedacht, daß es, na ja, paßt«, sagt Charis.
    »Daß was paßt?« sagt Tony geduldig.
    »Was du gesagt hast. Über das Projekt Babylon. Ich mein, das konnte doch nicht einfach nur ein Zufall sein, oder?«
    Tony macht den Mund auf, um zu sagen, daß es sehr wohl einer sein konnte, macht ihn aber wieder zu, weil Roz sie unter dem Tisch angestoßen hat.
    »Weiter«, sagt Roz.
     
    Charis watet durch die Stadt und atmet den in der Luft herumfliegenden Dreck ein. Vorbei am BamBoo Club mit seinen grellen karibischen Graphiken, vorbei am Dragon Lady Comic Shop, vorbei am Zephyr mit seinen Muscheln und Kristallen, einem Laden, in dem sie normalerweise gerne ein wenig herumstöbert, aber heute hastet sie fast ohne einen Blick vorbei, weil sie zu einer bestimmten Zeit wieder zurück sein muß. Es ist ihre Mittagspause. Normalerweise nimmt sie sich nicht viel Zeit zum Mittagessen, weil um die Mittagszeit herum immer am meisten los ist, aber sie haben den Laden für ein paar Tage zugemacht, während die neuen Schaukästen und die Packpapierschleifen installiert werden, deshalb kann sie heute eine Ausnahme machen. Sie hat Shanita um eine zusätzliche halbe Stunde gebeten; sie wird sie wiedergutmachen, indem sie ein andermal länger bleibt, irgendwann, wenn sie wieder geöffnet haben. Jedenfalls hat sie so genug Zeit, ins Arnold Garden Hotel zu gehen, Zenia zu sehen, sie zu fragen, was sie sie fragen muß, und die Antwort aus ihr

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