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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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weiterzuziehen; oder sie sehen ausdruckslos zu den Männern hinüber, oder sie starren an ihnen vorbei, als hielten sie intensiv Ausschau nach einem anderen, einem anderen Mann, einem wichtigeren.
    Ein paar der Frauen sehen zu Tony hinüber, als sie hereinkommt, und wenden den Blick schnell wieder ab. Tony trägt dieselben Sachen, die sie immer trägt, eine dunkelgrüne Cordjacke mit einer weißen Bluse darunter, ein grünes Samthaarband, Kniestrümpfe und braune Mokassins. Sie hat immer noch eine Menge Kleider aus ihrer High-School-Zeit, weil sie ihr immer noch passen. In diesem Augenblick weiß sie, daß sie sich andere Sachen kaufen muß. Sie weiß nur nicht, wie. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und späht durch die ineinander verwobene Hecke aus Armen und Schultern und Köpfen, aus schwarzen, wollenen, rippengestrickten Brüsten und denimbekleideten Brustkörben und Leibern. Aber West ist nirgends zu sehen.
    Vielleicht liegt es daran, daß das Zimmer so dunkel ist; vielleicht kann sie ihn deshalb nicht sehen. Dann merkt sie, daß das Zimmer nicht nur dunkel ist, es ist schwarz. Die Wände, die Decke, sogar der Fußboden sind von einem glänzenden, harten, emailleartigen Schwarz. Sogar die Fenster sind schwarz gestrichen, sogar die Lichtschalter. Anstelle von elektrischem Licht gibt es Kerzen, die in Chiantiflaschen stecken. Und überall im Zimmer stehen große, silbrige Konservendosen ohne Etiketten, die mit weißen Chrysanthemen gefüllt sind, die im Licht der Kerzen wabern und schimmern.
    Tony würde am liebsten gehen, möchte das aber nicht tun, ohne West gesehen zu haben. Er könnte sonst denken, sie hätte seine Einladung ausgeschlagen und sei einfach nicht gekommen; er könnte sie für einen Snob halten. Außerdem möchte sie getröstet und beruhigt werden: wenn er da wäre, würde sie sich nicht so fehl am Platz Vorkommen. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, einen Flur hinunter, der links abgeht. Er endet vor einem Badezimmer. Eine Tür öffnet sich, das Rauschen einer Spülung ist zu hören, und ein großer, haariger Mann kommt heraus. Er sieht Tony mit glasigen Augen an. »Ach du Scheiße, die Pfadfinderinnen sind da«, sagt er.
    Tony hat das Gefühl, auf Daumengröße zu schrumpfen. Sie flüchtet sich ins Badezimmer, das ihr wie eine Art Refugium vorkommt. Auch das Badezimmer ist schwarz gestrichen, sogar die Badewanne, sogar das Waschbecken, sogar der Spiegel. Sie schließt die Tür ab und setzt sich auf die schwarze Toilette, nachdem sie mit der Hand geprüft hat, ob die Farbe trocken ist.
    Sie ist sich nicht sicher, ob sie in der richtigen Wohnung ist. Vielleicht wohnt West gar nicht hier. Vielleicht hat sie die falsche Adresse; vielleicht ist das hier eine andere Party. Aber sie hat noch einmal auf ihrem Zettel nachgesehen, bevor sie die Treppe heraufkam. Dann ist es vielleicht die falsche Zeit – vielleicht ist sie zu früh dran für West, oder zu spät. Sie hat nicht die geringste Ahnung, da sein Kommen und Gehen immer so unvorhersehbar war.
    Sie könnte das Badezimmer verlassen und jemanden fragen – einen der riesigen, haarigen Männer, eine der großen, hochmütigen Frauen –, wo er sein könnte, aber es graust sie davor, das zu tun. Was, wenn niemand weiß, wer er ist? Es ist sicherer, einfach hier drin zu bleiben, die Schlacht von Culloden nachzuspielen, die Chancen abzuwägen. Sie arrangiert das Terrain – der schräg abfallende Hügel, die Steinmauer mit den adretten britischen Soldaten mit ihren adretten Gewehren in einer Reihe dahinter. Der Angriff der zerlumpten Clans, die mit lautem Kampfgeschrei den Hügel herabstürmen, mit nichts als ihren schweren, veralteten Schwertern und ihren runden Schilden bewaffnet. Malerisch und edel in Haufen zusammensinkend. Ein Gemetzel. Mut hat nur dann einen Sinn, wenn die Technologien gleich verteilt sind. Bonnie Prince Charlie war ein Idiot.
    Nicht gewinnbar, denkt sie, als Schlacht. Die einzige Hoffnung hätte darin bestanden, einer offenen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Die Kampfbedingungen abzulehnen, die Konventionen über den Haufen zu werfen. In der Nacht zuzuschlagen und wieder mit den Hügeln zu verschmelzen. Kein fairer Kampf, aber was ist schon ein fairer Kampf? Nichts, wovon sie bis jetzt etwas gehört hätte.
    Jemand klopft an die Tür. Tony steht auf, betätigt die Spülung der schwarzen Toilette, wäscht sich an dem schwarzen Waschbecken die Hände. Es ist kein Handtuch da, also trocknet sie sich die Hände an ihrer

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