Die Räuberbraut
erkennen, dem Geruch nach süßlicher Politur – und plante ihre Fluchtwege: ins Badezimmer, durch die Küchentür, in ihr Schlafzimmer. Das Wichtigste war, sich nicht in eine Ecke drängen zu lassen. Ihr Zimmer hatte ein Schloß, aber sie schob außerdem noch eine Kommode vor die Tür, nachdem sie zuvor alle Schubladen herausgenommen hatte, die sie, wenn die Kommode an Ort und Stelle stand, wieder hineinschob; sonst wäre sie für sie zu schwer gewesen. Dann setzte sie sich mit dem Rücken vor die Kommode, ein Buch auf den Knien, und versuchte, das Rütteln am Knauf nicht zu hören, und auch nicht die gedämpfte, gebrochene Stimme, die hinter ihrer Tür schniefte: Ich will doch nur mit dir reden! Das ist alles! Ich will doch nur...
Einmal machte sie ein Experiment: sie leerte all seine Flaschen aus, so daß nichts mehr da war, als er nach Hause kam – er hatte den Job gewechselt, er hatte schon wieder den Job gewechselt –, und er warf alle Weingläser, alle Gläser jeglicher Art, an die Küchenwand, und am nächsten Morgen lag eine Menge kaputtes Glas herum. Tony registrierte mit Interesse, daß diese Zeichen des Chaos sie nicht mehr ängstigten. Früher hatte sie immer gedacht, Anthea sei die Gläserwerferin der Familie; vielleicht war sie es tatsächlich gewesen, aber das war lange her. Sie mußten ihren Orangensaft eine ganze Woche lang aus Teetassen trinken, bis Ethel dazu kam, neue Gläser zu kaufen.
Als Tony ihre erste Periode bekam, war es Ethel, die sich darum kümmerte. Es war Ethel, die ihr erklärte, daß Blutflecke sich leichter entfernen ließen, wenn man sie erst in kaltem Wasser einweichte. Sie war eine Autorität auf dem Gebiet von Flecken aller Art. »Es ist nur der rote Fluch«, sagte sie; der Ausdruck gefiel Tony. Es war zwar ein Fluch, aber es war nur ein Fluch. Schmerz und Kummer hatten in Wirklichkeit eine nur untergeordnete Bedeutung. Sie konnten ignoriert werden.
Tonys Mutter ertrank. Sie sprang mitten in der Nacht irgendwo vor der Küste Niederkaliforniens von einer Yacht und kam nicht wieder an die Oberfläche. Vielleicht hatte sie unter Wasser die Orientierung verloren und war an der falschen Stelle hochgekommen und hatte sich den Kopf am Boden des Boots angeschlagen und das Bewußtsein verloren. Das jedenfalls war die Geschichte, die Roger erzählte, der Mann, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt zusammen war. Es tat Roger leid, so wie es einem leid tat, wenn man den Autoschlüssel anderer Leute verlor oder ihre beste Porzellanschüssel fallenließ. Er klang, als hätte er gerne Ersatz besorgt, wisse aber nicht, wie er das anstellen solle. Außerdem klang er betrunken.
Tony war diejenige, die den Anruf entgegennahm, weil weder ihr Vater noch Ethel im Haus waren. Roger schien nicht zu wissen, wer sie war.
»Ich bin die Tochter«, sagte sie.
»Wer?« sagte Roger. »Sie hatte keine Tochter.«
»Was hatte sie an?« fragte Tony.
»Was?« fragte Roger zurück.
»Hatte sie einen Badeanzug an, oder ein Kleid?«
»Was ist das denn für eine alberne Frage?« sagte Roger. Er schrie inzwischen, es war ein Ferngespräch.
Tony verstand nicht, warum er so wütend war. Sie wollte den Vorfall doch nur rekonstruieren. War Anthea im Badeanzug vom Boot gesprungen, um zu mitternächtlicher Stunde schwimmen zu gehen, oder war sie, in einem langen, hinderlichen Kleid, einfach nur so gesprungen, in einem Wutanfall? So wie man eine Tür zuschlägt? Letzteres kam Tony wahrscheinlicher vor. Oder hatte Roger sie vielleicht gestoßen. Auch das war nicht undenkbar. Tony war nicht an Rache interessiert, nicht einmal an Gerechtigkeit. Nur an Genauigkeit.
Trotz seiner vagen Umständlichkeit war es Roger, der Antheas Einäscherung veranlaßte und die Asche in einem Metallzylinder schickte. Tony fand, daß es eine Art Trauerfeier geben müsse; aber wer hätte schon daran teilgenommen, außer ihr?
Kurz nach seinem Eintreffen verschwand der Zylinder. Mehrere Jahre später fand Tony ihn wieder, als auch ihr Vater gestorben war und sie und Ethel das Haus ausräumten. Der Zylinder lag im Keller, zwischen den alten Tennisschlägern. Das war ganz passend: viele der Fotos ihrer Mutter hatten sie im Tennisdreß gezeigt.
Zu der Zeit, als ihre Mutter starb, war Tony schon im Internat, auf eigenen Wunsch. Sie hatte nicht länger in dem Haus bleiben wollen, das sie nicht als ihr Zuhause betrachtete und in dem ihr Vater ständig auf der Lauer lag und trank und ihr überallhin folgte und sich räusperte, als wolle er ein
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