Die Räuberbraut
Schlimmer noch, der metallene Zylinder sinkt nicht. Er schwimmt, er geht im Kielwasser der Fähre auf und ab. Tony hätte ihn öffnen und den Inhalt auskippen sollen. Wenn sie ein Gewehr hätte, könnte sie ein paar Löcher hineinschießen. Wenn sie schießen könnte.
24
Der Dezember wird dunkler und dunkler, die Straßen schmücken sich mit Weihnachtsflitter, der von Blechbläsern begleitete Chor der Heilsarmee singt seine Weihnachtslieder und klingelt mit seinen Glöckchen und rasselt mit seinen Sammelbüchsen, und mit dem Schneegestöber weht die Einsamkeit herbei, und die anderen Mädchen aus der McClung Hall verabschieden sich, um zu ihren Familien zu fahren, nach Hause, in ihre warmen, heimeligen Häuser, und Tony bleibt zurück. Wie auch früher schon; aber dieses Mal ist es besser, dieses Mal hat sie kein kaltes Gefühl in der Magengrube, weil nämlich Zenia da ist, mit ihrem herzerfrischenden Spott. »Weihnachten ist einfach Scheiße«, sagt Zenia. »Scheiß auf dieses Weihnachten, es ist so was von bourgeois« , und Tony fühlt sich wieder besser und erzählt Zenia von der Kontroverse um das Geburtsdatum Jesu Christi, im tiefsten Mittelalter, und wie erwachsene Männer bereit gewesen waren, sich deswegen umzubringen, wegen der genauen Datierung von Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen , und Zenia lacht. »Dein Kopf ist wie ein Karteikasten«, sagt sie. »Laß uns was essen, ich mach uns was.« Und Tony sitzt zufrieden an Zenias Küchentisch und sieht zu, wie sie mißt und mischt und rührt.
Wo ist West bei all dem? Tony hat ihn aufgegeben, denn wie könnte sie je mit Zenia konkurrieren? Und selbst wenn sie es könnte, würde sie nicht im Traum daran denken. Es wäre unehrenhaft:
Zenia ist ihre Freundin. Ihre beste Freundin. Ihre einzige Freundin, wenn sie es richtig bedenkt. Tony hatte nicht die Gewohnheit, Freundinnen zu haben.
Aber vielleicht ist es auch umgekehrt; vielleicht ist einfach kein Platz mehr für West, zwischen den beiden. Sie sind sich zu nahe.
Und so gibt es jetzt Zenia und Tony, und Zenia und West; aber kein West und Tony mehr.
Manchmal sind sie zu dritt. Tony geht mit Zenia und West in ihre Wohnung, die neue, in die sie eingezogen sind, nachdem sie die alte schwarz gestrichen hatten. Die neue Wohnung ist nicht neu, sondern schäbig und billig und heruntergekommen; sie liegt über einem Laden im östlichen Teil der Queen Street, in einem Haus ohne Fahrstuhl. Sie hat ein schmales, langes Wohnzimmer mit einem einzigen Fenster, dessen Scheibe klirrt, wenn ein Auto vorbeifährt; eine große, verlotterte Küche mit einer orangefarbenen Tapete, die in Fetzen herunterhängt, einem Holztisch mit rissiger blauer Farbe, und vier nicht zusammenpassenden Stühlen; und ein Schlafzimmer, in dem Zenia und West auf einer Matratze auf dem Boden schlafen.
Zenia macht Rühreier, und starken, erstaunlichen Kaffee, und West spielt ihnen etwas auf der Laute vor: er hat tatsächlich eine. Er sitzt auf einem Kissen auf dem Boden, die langen Beine angewinkelt, so daß sie in die Luft ragen wie die Hinterbeine eines Grashüpfers, bearbeitet die Laute mit geschickten Fingern und singt alte Balladen.
Ich kann nicht herüber, der Fluß ist zu weit,
Hätt ich Flügel, so fände ich dich,
Ich bau mir ein Boot, groß genug für zwei,
Sollen beide rudern, meine Liebe und ich,
singt er. »Es gibt auch ’ne irische Version«, fügt er hinzu. »Mit einem Fährmann.«
Im Grunde genommen singt er nur für Zenia, nicht für Tony. Er ist schrecklich in Zenia verliebt; Zenia hat es Tony erzählt, und außerdem ist es nicht zu übersehen. Zenia muß genau dasselbe für West empfinden, denn sie schwärmt von ihm, sie hebt ihn in den Himmel, sie streichelt ihn mit ihren Blicken. Er ist so sanft, hat sie Tony bei einem ihrer Kaffee-Gespräche erzählt; so aufmerksam und rücksichtsvoll, ganz anders als die meisten Männer, die brutale, sabbernde Ungeheuer sind. Er schätzt sie aus den richtigen Gründen. Er betet sie an! Sie kann von Glück sagen, daß sie einen so liebevollen Mann gefunden hat. Und natürlich ist er toll in der Falle.
Falle? denkt Tony. Was für eine Falle? Es dauert eine Minute, bis sie dahinterkommt. Sie war noch nie zuvor mit zwei Leuten zusammen, die sich lieben. Sie kommt sich vor wie ein heimatloses Straßenkind, das zerlumpt und halb erfroren die Nase an ein hell erleuchtetes Fenster preßt. Das Fenster eines Spielzeuggeschäfts, oder einer Bäckerei, mit herrlichen Torten
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