Die Räuberbraut
Gespräch anfangen. Sie wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Sie wußte, es würde eine Art Entschuldigung sein, eine Bitte um Verständnis, etwas Weinerliches. Oder aber ein Vorwurf: wenn Tony nicht gewesen wäre, hätte er ihre Mutter nie geheiratet, und wenn er nicht gewesen wäre, wäre Tony nie geboren worden. Tony war die Katastrophe seines Lebens gewesen. Für Tony hatte er-was eigentlich genau? – geopfert. Er schien es selbst nicht zu wissen. Aber trotzdem, war sie ihm nicht irgend etwas schuldig?
Durch Vermutungen, durch Nachrechnen von Daten, mit Hilfe von ein paar beiläufigen Bemerkungen, die sie irgendwann aufschnappte, hatte Tony sich so etwas längst gedacht: eine Schwangerschaft, eine überstürzte Kriegshochzeit. Ihre Mutter war eine Kriegsbraut, ihr Vater war ein Kriegsbräutigam, sie selbst war ein Kriegsbaby. Sie war ein Unfall. Na und? Sie wollte nichts davon hören.
Was immer er hatte sagen wollen, blieb ungesagt. Es war Ethel, die ihn fand, auf dem Boden seines immer noch ordentlichen Arbeitszimmers mit den auf dem Schreibtisch stehenden, gespitzten Stiften. In seinem Brief sagte er, er habe nur darauf gewartet, daß Tony mit der High-School fertig würde. Er war sogar zur Abschlußfeier gekommen, am selben Nachmittag, und hatte mit den anderen Eltern im Saal gesessen und Tony hinterher eine goldene Armbanduhr geschenkt. Er hatte sie auf die Wange geküßt. »Du wirst schon zurechtkommen«, hatte er gesagt. Danach war er nach Hause gegangen und hatte sich mit seiner befreiten Pistole eine Kugel durch den Kopf geschossen. Einer Luger, wie Tony inzwischen weiß, da sie sie geerbt hat. Zuerst aber hatte er Zeitungen ausgelegt, um den Teppich zu schonen.
Ethel sagte, so sei er nun einmal gewesen: rücksichtsvoll, ein Gentleman. Sie weinte auf der Beerdigung, im Gegensatz zu Tony, und murmelte während der Gebete vor sich hin. Zuerst dachte Tony, sie sage Tittetittetitte, aber in Wahrheit sagte sie bittebittebitte. Vielleicht hatte sie das immer schon gesagt. Vielleicht weinte sie gar nicht um Griff, sondern um ihre beiden toten Kinder. Oder um das Leben im allgemeinen. Tony besaß die Fähigkeit, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, sie war für alles offen.
Griffs Lebensversicherung war damit natürlich hinfällig. Sie schloß Selbstmord aus. Aber Tony hatte das Geld, das vom Verkauf des Hauses übrigblieb, nachdem die Hypothek bezahlt war, und das Geld, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und alles, was sonst noch auf der Bank war. Vielleicht hatte ihr Vater das gemeint, als er gesagt hatte, sie würde schon zurechtkommen.
Das war’s also, sagt Tony zu Zenia. Und das ist es auch, soweit es sie betrifft. Sie denkt nicht viel an ihre Eltern. Sie hat keine Alpträume, in denen ihr Vater ihr mit halb weggeschossenem Kopf erscheint und ihr immer noch etwas sagen will; oder von ihrer Mutter, die nasse, vor Salzwasser triefende Gewänder hinter sich herzieht und der die Haare ins Gesicht hängen wie Seetang. Sie denkt, daß sie vielleicht solche Alpträume haben sollte, aber sie hat sie nicht. Das Studium der Geschichte hat sie gegen gewaltsame Todesfälle gestählt; sie ist gut gewappnet.
»Und du hast die Asche immer noch?« fragt Zenia. »Die von deiner Mutter?«
»Sie ist im Fach mit meinen Pullovern«, sagt Tony.
»Du bist ein grausiges kleines Ding«, lacht Zenia. Tony nimmt es als Kompliment: genau dasselbe hat Zenia gesagt, als Tony ihr die Hefte mit den Schlachten und den Verlustlisten zeigte. »Was hast du sonst noch? Die Pistole?« Aber dann wird sie ernst. »Du solltest dich von dieser Asche trennen! Sie ist ein schlechtes Omen, sie wünscht dir Böses.«
Das ist eine neue Seite an Zenia: sie ist abergläubisch. Das hätte Tony nie im Leben gedacht, und die hohe Meinung, die sie von Zenia hat, rutscht eine Kerbe nach unten. »Es ist doch nur alte Asche«, sagt sie.
»Du weißt genau, daß das nicht stimmt«, sagt Zenia. »Du weißt , daß es nicht stimmt. Solange du sie behältst, hat sie Macht über dich.«
Und so nehmen die beiden am nächsten Abend die Fähre zur Insel. Es ist Dezember, und der Wind ist eisig, aber noch ist der See nicht zugefroren, und die Fähre verkehrt noch. Etwa auf halbem Weg wirft Tony den Kanister mit der Asche ihrer Mutter über das Heck der Fähre in das dunkle, aufgewühlte Wasser. Von allein hätte sie das nie getan; sie tut es nur Zenia zuliebe.
»Ruhe in Frieden«, sagt Zenia. Sie klingt nicht sehr überzeugt.
Weitere Kostenlose Bücher