Die Raffkes
werden. »Es hilft nichts, wir müssen es angehen«, sagte er endlich und wählte die Nummer seiner Tante. »Ich weiß, es ist schon spät, aber hier tut sich etwas, mit dem Frau Westernhage und ich nicht so recht zurande kommen. Könnte sie eventuell ab morgen das große Zimmer im Turm haben?« »Wann kommt ihr denn?«
»Im Laufe des Vormittags, denke ich. Und ich wollte dich bitten, mir einen Termin bei dieser Frau zu machen, von der ich nicht einmal weiß, wo sie wohnt.«
»In Braunschweig, mein Lieber, in Braunschweig. Wann denn? Morgen, am frühen Abend?«
»Ja, das wäre gut. Und danke.«
»Ach, du lieber Gott!«, sagte Tante Ichen und legte auf.
»Wie ist denn deine Tante?«, fragte Marion.
»Sie wird dir gefallen«, beruhigte er sie. »Sie ist ein Unikum. Und solange man sie nicht ärgert, tut sie einem nichts.« Sie standen im Morgengrauen auf, sie gaben einander nicht zu, schlecht geträumt zu haben. Wortlos packten sie ihre Sachen zusammen, beluden das Auto und legten der Nachbarin Geld und ein Dankesschreiben auf den Tisch. Das Turmzimmer war eigentlich immer Lenchens Zimmer gewesen, obwohl Mann nur eine verschwommene Erinnerung an sie hatte. Lenchen war eine Frau aus Johns Heimat Friesland gewesen. John hatte sie eines Tages mitgebracht und behauptet, sie könne fantastisch kochen und sei ungemein fleißig. Beides hatte sich nicht bewahrheitet, aber sie wurde zu einer schweigenden Weggefährtin Tante Ichens. Still, ungemein bemüht, von Herzen zurückhaltend und furchtbar ungeschickt. Eines Tages war Lenchen mit heftigen Bauchschmerzen zu einem Arzt gebracht worden, der sie sofort in ein Krankenhaus überwies. Krebs, sagten die Spezialisten. Sie war still gekommen und nun ging sie an ein stilles Sterben, weit entfernt von der Landschaft, die sie ihre Heimat nannte. Tante Ichen pflegte zu sagen: Wenn Lenchen um mich herum war, wurde ich ruhig und die Zeit hatte einen anderen Fluss. Das Turmzimmer hieß Turmzimmer, weil ein etwas schräger Architekt einmal behauptet hatte, das Haus brauche auf der rechten Seite einen architektonischen Schlusspunkt. Niemand hatte das nachvollziehen können, aber weil zu jener Zeit die Hoffnung bestand, dass Manns Mutter eines Tages einziehen würde, war der Turm gebaut worden. Manns Mutter hatte das Zimmer jedoch nie gesehen. Als sie im Grunewald ankamen, schien die Sonne und Tante Ichen stand neben John in der offenen Haustür und sagte strahlend: »Willkommen!« Sie reichte Marion beide Hände und setzte hinzu: »Kindchen, wenn ich das richtig sehe, brauchen Sie Pflege und viel Schlaf. Das ist John, er wird über Sie wachen.« John sagte eilfertig: »Ich koche einen Tee.« »Ich trinke nie Tee«, sagte Marion etwas verunsichert.
»Dann fangen Sie heute damit an«, bestimmte Tante Ichen. »In diesem Haus gibt es nämlich einen besonderen Tee.«
Mann lachte und stellte fest, dass seine Anwesenheit wohl überflüssig sei.
Er zog sich in sein Zimmer zurück und rief Blum an, um ihn darüber zu informieren, dass Marion jetzt im Haus seiner Tante untergebracht war.
Während er noch auf seinem Bett lag und nachdachte, schlief er ein und wachte erst am frühen Nachmittag auf.
Als er erfrischt ins Erdgeschoss kam, sah er die beiden Frauen im Wintergarten sitzen und sich leise miteinander unterhalten. John werkelte in der Küche herum und bemerkte, seine Tante habe einen guten Eindruck von Marion. »Und übrigens, da vorne auf dem Tisch liegt ein Zettel mit der Adresse von der Frau aus Braunschweig. Sie erwartet dich zwischen fünf und sechs.«
Wenig später machte sich Mann auf den Weg. Er fuhr ohne Zeitdruck. Hielt sogar zweimal auf Rastplätzen, rauchte in Ruhe und überlegte sich Fragen an die Frau.
Das Haus der Familie von Robby lag in einem Siedlungsgebiet im Außenbezirk der Stadt. Es war aus rotem Klinker gebaut, schien sich unter einem grauen Himmel zu ducken. Neben der dunkelbraunen Eingangstür hatte jemand ein Tonschild an die Wand gedübelt, auf dem stand: Hier wohnen Esther, Maria und Ana Kellermann.
Zwei Töchter, dachte Mann, die sicherlich keine Sehnsucht haben nach einem Mann und eigenen Kindern. Dann fand er seine Einschätzung idiotisch, weil auch das Gegenteil der Fall sein konnte.
Die Frau, die ihm öffnete, hatte das Gesicht eines Raubvogels, sehr schmal, sehr hager mit einer ausgeprägt großen Nase und dunkelbraunen Augen, die wie Punkte in dem Gesicht saßen. Sie war vermutlich um die fünfzig, und der erste Eindruck mahnte Mann zur
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