Die Raffkes
machten sie es. Der Tau lag schwer auf dem Gras und nach wenigen Schritten waren ihre Schuhe nass. Einmal überquerten sie einen Bachlauf, mussten dann, wenige Meter weiter, durch ein seichtes Flüsschen waten. Als sie die Rückfront des Gebäudes erkennen konnten, gingen sie in direkter Linie darauf zu. Bald darauf befanden sie sich in der totalen Finsternis eines Gehölzes. »Langsam«, mahnte Peter. »Die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Still stehen, fünf Minuten still stehen. Nie einen Ast beiseite drücken, immer darunter herbücken. Langsam. Und nicht mehr reden.« Er benimmt sich wie ein Guerillakämpfer, als mache er das jeden Tag zwei Mal, dachte Mann. Wieso mache ich, ein deutscher Staatsanwalt, eigentlich so einen Schmonzes? Warum gehe ich nicht zur Vorderseite, schelle und sage: Ich möchte gern Marion Westernhage sprechen, und zwar sofort! Na ja, wenn ich das mache, bringe ich sie vielleicht in Gefahr. Also spielen wir Pfadfinder. Das Licht im Osten wurde intensiver, der Tag kam angekrochen. Mann konnte zunehmend Äste erkennen, die in seinen Weg hineinragten. Dann standen sie plötzlich vor einer roten Backsteinmauer, vielleicht zwei Meter hoch. Peter deutete schweigend erst nach links, dann nach rechts oben. Tatsächlich waren da kleine Kameras installiert, die winzigen roten Kontrolllampen waren deutlich zu sehen. Die Kameras bewegten sich nicht. Peter stellte sich unter die linke und verschränkte die Hände im Schoß. Dann deutete er auf Mann. Mann folgte seinem Beispiel und ließ Peter in seine Hände steigen. Es dauerte nur Sekunden, dann war die Linse der Kamera dreckverschmiert, durch einen Erdklumpen funktionslos geworden. Das gleiche Spiel mit der rechten Kamera. Peter huschte leise an der Mauer entlang.
Sie erreichten den Knick, der nach links führte, und Peter deutete auf eine günstig stehende Eiche. »Die nimmst du«, hauchte er. »Ich nehme einen Baum gegenüber, dahinten. Wir geben Zeichen. Handfläche bedeutet alles okay, Faust Vorsicht, Handfläche hin-und herbewegen heißt: runter.« Mann nickte und hatte sogleich ein Problem: Er stellte sich mit seinem rechten Fuß in eine spitzwinklige Gabel und bekam den Fuß nicht mehr frei. Es dauerte eine Weile, bis er wieder Herr über alle seine Gliedmaßen war. Als er schließlich etwa anderthalb Meter höher stand, konnte er die Rückfront des Hauses und den Garten gut überblicken. Der Garten bestand zu großen Teilen aus freien Flächen, die mit hellem Kies belegt waren. Dazwischen Rasenflächen, an der Hausmauer standen zwei Gartenbänke aus Holz. Das Haus lag ohne einen Laut. Ungefähr fünfzig Meter entfernt, jenseits des Gartens, tauchte Peter in einem Baum auf und zeigte seine Handfläche. Mann kam das alles plötzlich sehr grotesk vor. Was sollte er eigentlich tun, wenn sich im Haus oder Garten etwas regte? Und was, wenn er in den Füßen Krämpfe bekam? Sich einfach fallen lassen und hoffen, dass es beim Beinbruch blieb? Plötzlich entdeckte er in einem Fenster des Dachgeschosses Licht. Hinter den klaren Scheiben bewegte sich eine Gestalt. Ohne Zweifel handelte es sich um eine Frau, sie war nackt. Peter musste sie auch gesehen haben, denn er reckte eine Faust und deutete lebhaft zum Haus hin. Die Frau lief geschäftig hin und her, wenngleich nicht zu erkennen war, was sie tat. Dann trat sie an das Fenster und öffnete es. Es war nicht Marion Westernhage, diese Frau war korpulenter. Sie verharrte ein paar Sekunden und verschwand dann, um mit einem Pullover wieder aufzutauchen, den sie sich über den Kopf zog. Sie schien nicht allein in dem Zimmer zu sein, denn sie wandte sich um und gestikulierte mit den Armen. Dann drehte sie sich zum Fenster zurück und schloss es. Das Licht erlosch wieder. Über eine Stunde lang geschah nichts, während Mann lernte, von Zeit zu Zeit den Standpunkt der Füße zu wechseln und leicht auf und nieder zu wippen, um den Kreislauf in Gang zu halten. Um exakt fünfzehn Minuten nach sieben tat sich etwas im Garten. Ein Mann trat aus einer grün lackierten schmalen Tür und ließ einen Hund ins Freie. Der Schäferhund begann zu tollen, der Mann lachte und sagte: »Du bist ein Irrer.« Der Hund streckte sich mit den Vorderläufen flach auf die Erde, schob seinen Kopf weit vor und sprang dann wieselflink auf den Mann zu. Der bückte sich, aber es war zu spät und der Hund prallte gegen ihn. Der Mann schrie und begann nach dem Hund zu treten. Er traf ihn erst an der Schnauze, dann mitten in den Leib.
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