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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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weniger seinen jetzigen Empfindungen – fehlte nur noch der Schüttelfrost. Es war, als würde man einen Fuß in eine unbekannte Welt setzen – mit dem Schwindel kam die Angst und eine unwiderstehliche Anziehung.
    »Iss!«, sagte er. »Alles in Ordnung.«
    »So siehst du aus. – Und du, isst du nichts?«
    Es war voll, und das laute Stimmengewirr kam ihm gerade recht, denn so brauchte er sich nicht ernsthaft zu unterhalten und konnte zugleich das Kommen und Gehen der Gäste im Auge behalten. Seit sie am frühen Morgen geradezu fluchtartig das Haus verlassen hatte, verspürte er das dringende Bedürfnis, ihr ein paar Worte zu sagen, das dringende Bedürfnis, den kühlen Empfang wiedergutzumachen, den er ihr bereitet hatte – nur wenige Stunden nach dem fabelhaften Programm, das sie ihm auf dem Dach des Einkaufszentrums auferlegt hatte.
    Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er hatte auch keine Ahnung, was er ausbrütete, und würde einfach ein oder zwei Benuron ® nehmen. Wer seine Eltern zu früh verlor, hatte das Problem, dass Lernprozesse im Leeren endeten. Viele Begriffe wurden nicht übermittelt, viele Fakten fehlten. Viele Gefühle waren nicht einmal zugeordnet.
    Am Abend fühlte er sich richtig melancholisch. Bedrückt. Er hatte seiner Schwester nicht lange Gesellschaft leisten können und war ziemlich bald hinaufgegangen, um sich in seinem Zimmer einzuschließen. Er hatte sich aufs Bett fallen lassen, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick an die Decke geheftet, so lag er in der stillen Dämmerung. Da kam ihm eine glänzende Idee, und er stürzte sich auf das Notizbuch, das er seit Jahren immer bei sich trug, für den Fall, aber bis jetzt hatte er noch nichts Gutes zustande gebracht, nichts, was ihm wieder Hoffnung gemacht hätte.
    Eilig zog er den Füller aus der Heftspirale und wollte das Datum schreiben, aber nichts geschah. Er versuchte, mit einer schnellen Bewegung Kreise auf das Papier zu zeichnen, aber in diesem verdammten Füller war keine Tinte mehr. »Verdammt! Gütiger Himmel!«, knurrte er und begann, auf der Suche nach etwas zu schreiben kreuz und quer durch sein Zimmer zu laufen. Gefühle waren ein seltenes Gut, man musste sie sofort festhalten – je intensiver, desto flüchtiger waren sie. Da konnte man sehen, was man als Schriftsteller taugte, ohne sich etwas vorzumachen.
    Völlig außer Atem warf er einen Blick auf seinen Computer. Lieber sterben, lieber sterben, dachte er. Aber letztlich knickte er ein und setzte sich an den Bildschirm.
    Er hatte etliche Nachrichten. Eine war von Myriam. »Sind Sie da?«, fragte sie. Er las sie mehrmals. Sie war im letzten Tageslicht verschickt worden, also vor weniger als einer Stunde. »Hallo«, antwortete er. »Wie geht es Ihnen?«
    Er stand auf und stellte sich ans Fenster, um in der frischen, sternenklaren Nacht eine Zigarette zu rauchen – der Duft des Frühlings, der Jahr für Jahr aus den umliegenden Wäldern niederging und plötzlich, ohne auf Widerstand zu stoßen, den Hügel zum See hinabrollte, erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue. War das nicht die beste Zigarette des Tages?, dachte er und blickte voller Bewunderung auf die kleine Prinzessin, die er in der Hand hielt. Im Erdgeschoss schimmerte ein Lichtschein, ein Zeichen dafür, dass seine Schwester wach war und vielleicht dieselbe Landschaft betrachtete, während sie eine rauchte. Der Garten war davon bis zur Straße beleuchtet.
    Es war zwar immer noch dasselbe Haus, aber sie hatten den Pool zuschütten, den Garten abholzen und neu bepflanzen lassen, hatten alles verändert, bevor sie zurückgekehrt waren, so dass heute von den Ereignissen, die sich vierzig Jahre zuvor hier abgespielt hatten, nicht mehr das Geringste zu sehen war. Die Bäume waren zu großen Bäumen geworden, kleine Wäldchen entstanden, Alleen zeichneten sich ab, sie hatten einen Schuppen und ein Gewächshaus bauen lassen, die Grünflächen wurden nunmehr gepflegt – Marc lieh sich regelmäßig den Rasentraktor der Nachbarn aus, und Marianne bediente sich gern der Gartenschere, um gegen ihre Depressionen anzukämpfen. Er fragte sich, ob Myriam vor ihrem Bildschirm eingeschlafen war.
    Er war ihr äußerst dankbar, dass sie die Türen für ihn aufgestoßen, ihm die Augen geöffnet hatte, ganz egal, wie es weiterging. Äußerst dankbar. Er hoffte, dass Engel über ihren Schlaf wachten, dass ihre Matratze weich war und handbestickt. Zum Teufel mit den Studentinnen, aus und vorbei. Zum Teufel mit der Seichtheit. Zum

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