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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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verriet, in die ihn der Besuch Myriams stürzte.
    »Ich kann es kaum erwarten, das alles zu lesen«, sagte er. »Das ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen.«
    Doch er konnte ihr kaum in die Augen sehen. Draußen war die Sonne aufgegangen, über dem Wald flogen Raben.
    Sie erhob sich abrupt. Bedankte sich bei Marianne für den Kaffee. Er blickte auf die Hefte. »Ich werde das alles lesen«, sagte er und streichelte sie sanft. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte sie. »Es eilt nicht.«
    Sie ging zur Tür. Marianne war nicht aufgestanden, um sie hinauszubegleiten, und ihn hätte nichts und niemand dazu bewegen können, sich aus dem Stuhl zu erheben, auf dem er saß wie festgewachsen.
    Er hörte die Tür ins Schloss fallen. Die Stille bebte noch einige Sekunden. Dann stieg sie in ihren Wagen, der Motor brummte und war schließlich nicht mehr zu hören. Marianne schnalzte mit der Zunge.
    »Seltsames Mädchen«, meinte sie. »Keine Kinderstube, aber ein gewisses inneres Feuer, findest du nicht?«
    »Aber schon ein bisschen neben der Spur. Du weißt, wie unerträglich ich den Kontakt mit Eltern von Studenten finde. Das ist immer ein bisschen fragwürdig.«
    »Und sonst, wie findest du sie?«
    Er lachte auf. »Du bist zum Schießen!« Er zündete sich eine Zigarette an, während sie ihn lächelnd musterte. Dann sah er auf die Uhr. »Wir fahren in einer halben Stunde«, verkündete er.
    »Es geht schon wieder, ich fühle mich hervorragend.«
    »In einer halben Stunde«, wiederholte er. »Trödel nicht rum. Ich lasse es dich wissen, wenn ich den Eindruck habe, dass du wieder fahren kannst. Heute kommt das gar nicht in Frage. Ich hole dich mittags ab.«
    »Jedenfalls habt ihr beide nicht so ausgesehen, als würdet ihr euch besonders wohl fühlen in dieser Situation.«
    »Fandest du es nicht unangenehm, wie sie bei uns hereingeplatzt ist? Ich schon. Ich hoffe, sie bringt nicht noch andere auf die Idee, hier aufzukreuzen, wenn einer ihrer Sprösslinge ein armseliges Heft vollgekritzelt hat. Vor allem nicht in aller Herrgottsfrühe. Ob sie mir gefällt? Ist es das, was du wissen willst? War das die Frage?«
    Sie wandte sich ab und ging in ihr Zimmer. Er folgte ihr, blieb aber in der Tür stehen.
    »Deine Unterstellungen werden langsam unerträglich«, seufzte er. »Ich möchte ja sehen, was du tun würdest, wenn deine Stieftochter vermisst und dein Mann im Krieg wäre. Ich möchte ja sehen, ob du da nicht ein bisschen Trost suchen, ein paar Worte mit anderen Menschen wechseln würdest, um dich nicht allzu einsam zu fühlen. Könntest du etwas Verständnis aufbringen? Dich um Empathie bemühen? Deine Vorurteile überwinden? Marianne?«
    Sie trug nur einen Unterrock und stand über eine Schublade ihrer Kommode gebeugt. Eines Tages hatte er seine Mutter in dieser Aufmachung überrascht, sie hatte ihn an der Kehle gepackt, bis zur Eingangstür geschleift und hinausgeworfen, obwohl er nur einen Schlafanzug trug, erst acht Jahre alt war und draußen ein starker Nordwind wehte, der ihn jeden Moment fortreißen und wegwirbeln konnte wie einen Strohhalm – aber all das war ihm immer noch lieber als der finstere Keller.
    Bis Mittag war Myriam nicht wieder aufgetaucht. Und dabei hatte er den ganzen Morgen nach ihr Ausschau gehalten, sich in allen Gebäuden herumgetrieben, war durch die Cafeteria und um sie herum gestreift, hatte seine Bürotür offen gelassen usw. Die Überraschung, die sie ihm einige Stunden zuvor bereitet hatte, so verstörend sie auch gewesen sein mochte, hatte sein Verlangen, sie wiederzusehen, gewaltig angestachelt, so sehr, dass seine Schwester ihn fragte – nachdem sie lange Zeit in den Anblick des blutigen Steaks versunken gewesen war, das er für sie bestellt hatte –, ob er zu viel Koffein erwischt habe, weil er so gar nicht stillsitzen könne. »Du bist ganz offensichtlich mit den Gedanken woanders«, schloss sie. »Wie reizend von dir.«
    Es hatte keinen Sinn, das Gegenteil zu behaupten. Er konnte nichts dagegen tun, war sich seines Zustands jedoch vollkommen bewusst – wenn er auch nicht vermocht hätte, ihn zu benennen.
    Einige Jahre zuvor hatte er aufgrund einer Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr von Meeresfrüchten – oder Barschfilets – starkes Fieber bekommen, das bei einer Dozentenkonferenz über die spärliche Bekleidung einiger Studentinnen ausgebrochen war, und soweit er sich erinnern konnte, entsprachen die Symptome dieses Fiebers mehr oder

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