Die Rastlosen (German Edition)
kannten diese Menschen kein Pardon.
Es war auch nicht das erste Mal, dass Marianne ihn in so einem Zustand sah. Wie viel Eis hatte sie ihm schon gebracht, wie viel Verband angelegt und Aspirin verabreicht, seit sie laufen konnten?
»Du bist also diesem Mädchen nachgestiegen?«, fragte sie gleichgültig.
»Ich habe mich geweigert, ihr Nachhilfestunden zu geben. Sie ist mir nachgestiegen. Ich hoffe, du bemerkst den feinen Unterschied.«
Da sie mit seinen Wunden und Beulen beschäftigt war, bot sich ihm zwangsläufig freie Sicht auf ihre weiblichen Reize im Inneren ihres apfelgrünen Kimonos. Normalerweise hätte ihn dieser Anblick nervös gemacht und dazu veranlasst, draußen ein bisschen frische Luft zu schnappen. Natürlich war ihr Verhältnis nicht gerade einfach, wie auch. Logischerweise war es alles andere als eindeutig. Sie waren schon sehr früh gezwungen gewesen, sich in den Armen zu halten, sich zu berühren, zusammenzurücken und sich zu streicheln, um ihre Ängste zu bekämpfen, ihre Tränen zu ersticken und sich aneinanderzuklammern, solange der Sturm anhielt oder man sie ohne Essen auf ihr Zimmer geschickt hatte. Als Marianne noch klein war, hatte sie viel geweint, am liebsten an seiner Schulter, so dass er sich danach, so traurig er auch war, zunächst einmal umziehen musste, weil er aussah, als hätte ihm jemand eine Schüssel brackiges Wasser übers Hemd gekippt.
Ihre Tränen waren heiß und salzig. Er wusste, wie ihr Schweiß roch, kannte den Geruch ihrer Haare und andere Gerüche, die ihn manchmal völlig aus der Bahn warfen, aber der Anblick ihrer entblößten Oberweite, dieses Schauspiel, vor dem er normalerweise gezittert hätte wie ein zartes Blatt im Wind, ihre birnenförmigen Brüste, ihre flüchtig wahrgenommenen Nippel, ließ ihn an diesem Abend kalt.
Sicherlich hatte es etwas mit seiner körperlichen Verfassung zu tun. Die Tracht Prügel, die ihm zuteil geworden war, hatte ihn nicht gerade in lüsterne Stimmung versetzt, aber lieferte das eine hinreichende Erklärung?
Er ließ sich desinfizieren, mit Arnika einstreichen, dann rauchten sie eine Zigarette.
Er konnte es nicht fassen. Dass er so gleichgültig war. Diese unerwartete Leere in seinem Inneren. »Was ist denn?«, fragte sie und hielt einen Moment inne. Er blinzelte, um ihr anzuzeigen, dass alles in Ordnung war, deutete ein Lächeln an. Seine Stirn und sein Kiefer brannten. Durch die Nase zu atmen war beschwerlich. Seine Hände schmerzten.
Aber wenn das der Preis war, sagte er sich, der Preis, den er zahlen musste, damit er seinen Frieden hatte – warum nicht? Wenn die Eggbaums fanden, dass sie jetzt quitt seien, war er gern bereit, es dabei zu belassen. Er hatte Annie Eggbaum verletzt und dafür eine Abreibung bekommen. Recht so. Mein Gott, wie gut diese Zigarette schmeckte, dachte er, während er sich die stille Nacht im Garten besah.
Natürlich war Myriam die Ursache für dieses seltsame Phänomen. Noch nie hatte ihn eine seiner jungen Eroberungen davon abgehalten, hypersensibel auf den Körper, auf die sinnliche Ausstrahlung seiner Schwester zu reagieren. Noch nie hatte ihn eine seiner sympathischen Studentinnen derart überwältigt, dass er für Marianne das empfand, was er heute für sie empfand, nämlich gar nichts – zumindest von einem rein körperlichen Standpunkt aus betrachtet.
Der grüne Kimono hatte weiß Gott eine Menge Wunschträume bei ihm entfacht. Manchmal hatte es schon gereicht, dass er ihn einfach nur an einem seelenlosen Kleiderbügel im Schrank hängen sah, und er war in ein schwarzes Loch gestürzt. Einige der jungen Frauen hatten angemerkt, dass es schwere Ketten waren, die ihn mit seiner Schwester verbanden – und obwohl diese Frauen ihn inzwischen nicht mehr interessierten, musste er ihnen ein gewisses Gespür zugestehen und anerkennen, dass sie recht hatten. Aber als würde er am helllichten Tag in die Sonne schauen, war er sofort geblendet und unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen, unfähig zu sagen, was er fühlte.
Lagen diese Zeiten hinter ihm? Wie auch immer, Annie Eggbaum aus dem Spiel zu lassen war das einzig Richtige – sonst lief er Gefahr, in ein unüberschaubares Chaos zu geraten. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die schmerzenden Lippen. Er bemerkte, dass Marianne ihn ansah.
»Ich bin nicht so gestört, wie du denkst«, seufzte er. »Ich hatte keine Affäre mit dieser Studentin. Aber dieser Typ, das ist Tony Soprano. Weißt du, wer Tony Soprano ist? Nein? Bild dir
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