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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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konnte, weil er so groggy war.
    Er verdiente ihren uneingeschränkten Respekt. Sie durfte es nicht zu weit treiben. Er sah sie eindringlich an. Sie senkte schließlich ihren Blick und griff nach ihren Zigaretten. »Marc hat recht«, sagte sie. »Es ist schon spät. Ihre Pralinen haben mir gutgetan, Richard. Danke für Ihren Besuch. Danke für Ihre Anteilnahme.«
    »Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Sie wissen doch, Marianne. Was immer ich für Sie tun kann.«
    »Sie sind wirklich reizend, Richard. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde bald wieder auf den Beinen sein. Der Frühling wird mir dabei helfen. Ich werde wieder Sport machen. Ich werde mich in einem Fitnessstudio anmelden.«
    »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Adresse von meinem geben. Ich glaube, ein besseres gibt es nicht. Soll ich mich um die Anmeldung kümmern?«
    Ihr Gespräch war noch eine ganze Weile in diesem Ton weitergegangen. Unfassbar. Er lachte noch lange vor sich hin, selbst als sich Richard längst ans Steuer seines Alfa Romeo gesetzt hatte und in die fahle Nacht davongebraust war. Unfassbar. Grotesk.
    »Ich hätte euch filmen sollen«, spottete er. »Dann hätte ich mir das bei Gelegenheit noch mal anschauen können.«
    »Du liegst völlig falsch. Du hast zu viel Fantasie.«
    Im Vorübergehen fing er die Zigarettenpackung auf, die sie ihm zuwarf.
    *
     
    Am nächsten Tag stand er früh auf und machte eine lange Wanderung durch den Wald, lief weit in die angrenzenden zartgrünen Hügel hinein und widerstand so der Versuchung, in die Stadt zurückzukehren, um dort Myriam zu begegnen, vielleicht sogar durch ihre Straße zu laufen, ihre Fenster auszuspionieren oder andere Dummheiten zu machen.
    Es war etwas Neues für ihn, dass seine Gedanken so von einer Frau erfüllt waren. Nicht erfüllt von Furcht, Groll, Rachegelüsten oder anderen zärtlichen Empfindungen, wie seine Mutter sie in ihm auslöste, genauso wenig aber von den bedrückenden und gemischten Gefühlen, die seine Schwester bisweilen in ihm erweckte. Sondern erfüllt von einem angenehmen Fluidum, das manchmal wie ein erstaunlich wohltuender und gefährlicher Strom zu pulsieren begann. Das war erstaunlich neu.
    Er hatte mehr denn je das Bedürfnis zu laufen. Hätte man all die Kilometer zusammengezählt, die er in diesem Wald gegangen war, inmitten dieser Hügel, über die Bäche, Spalten und Abgründe hinweg, wäre ganz schön was zusammengekommen. Wenn er die Augen schloss, spürte er immer noch, wie die Zweige ihm ins Gesicht peitschten, während er in panischer Angst durch den Regen und die hereinbrechende Dunkelheit rannte, an jenem Novemberabend, an dem sie ihn mit einer Mistgabel verfolgte. Aber es gab auch wunderbare Morgen, sonniger als glitzernde Goldstücke – so dass man bei einem Blick durch die Blätter blinzeln musste –, an denen er mit seinem Vater loszog, um in einem Gebirgsbach zu baden, der so kalt war, dass sein Vater ihn in die Arme schließen musste, damit er nicht mehr mit den Zähnen klapperte. Heute roch die Luft gut – eine Mischung aus kalter Erde und frischem Gras.
    Einen Moment lang, und das erste Mal, seit er aufgewacht war, dachte er über Annie Eggbaum und die Probleme nach, die ihn erwarteten, wenn er wieder auf den Campus kam. Er preschte über einen Abhang voller abgefallener, welker, grauer und vertrockneter Blätter und stieß auf einen Pfad, der oberhalb der Straße entlangführte. Da es für die Kränkung, die er der Studentin zugefügt hatte, keine befriedigende oder sonderlich glorreiche Erklärung gab, konnte er darauf wetten, dass sie ihn ihren Ärger spüren lassen würde. Jeder würde an ihrer Stelle so handeln. Jeder würde nach Rache schreien.
    Er hatte noch die Nachhilfestunden in der Hinterhand, die sie seit Semesterbeginn von ihm forderte. In dieser Hinsicht war er flexibel, da hatte er reichlich Spielraum. Er konnte ihr eine Gratisstunde geben und sehen, was sie davon hielt. Ihr hier und da eine schlechte Note aufbessern, damit ihre gute Laune zurückkehrte.
    Als er sich der Spalte näherte, blickte er umher und bemerkte nichts Außergewöhnliches, sah und roch nichts, was aus den unterirdischen Untiefen der feuchten und moosigen Finsternis aufgestiegen wäre. Barbaras ewiger Schlaf verlief still und friedlich, und das war für alle Beteiligten ein uneingeschränkter Grund zur Freude. Diese Spalte war sehr wohl eine letzte Ruhestatt, und unter gewissen Umständen die beste, die man sich wünschen konnte –

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