Die Rastlosen (German Edition)
festklammerte, die an der Felswand wuchsen.
Es waren keine schlechten Gerüche festzustellen. Es war kein Leichnam zu sehen. Er hatte sich an den äußersten Rand des Felsvorsprungs gelegt, an dem Barbaras sterbliche Überreste zunächst hängengeblieben waren, hatte dann mit seiner Taschenlampe systematisch den Abgrund abgesucht und am Ende seiner Inspektion ein zufriedenes Gesicht gemacht. Diese Spalte würde ihn so schnell nicht verraten. So bald würde man hier keine Leiche, kein Gerippe herausholen, ganz als ob es in unendliche Tiefen hinabginge.
Bevor er wieder hochgestiegen war, hatte er eine Zigarette geraucht, hatte auf den Fersen sitzend hier ein paar Fledermäuse angeleuchtet, da ein paar Moosflecken, dort ein paar kleine Rinnsale, während über seinem Kopf die sternenübersäte Himmelscheibe hing. Er hielt sich gern an diesem Ort auf. Das wurde ihm einmal mehr bewusst. Er fühlte sich seltsam beschützt, immer wenn er hier herabstieg, immer wenn er sich innerhalb dieser Steinmauern befand, atmete er auf, er konnte gänzlich loslassen, alles aus seinem Kopf bannen. Zum Glück, zu seinem großen Glück, hatte das Nikotin noch immer eine mehr oder weniger betäubende Wirkung auf ihn, und er betete zum Himmel, dass diese unvergleichliche Wirkung bis in alle Ewigkeit anhalten möge, damit dieses Glücksgefühl nie zu Ende ging. Nicht nur das Rauchen tötete einen in diesem irdischen Jammertal – das Angebot war groß.
Als sie ihr Fenster öffnete und ihn aus seinen Gedanken riss, erschien sie ihm als ein leuchtendes, aber mürrisches Bild. Auf diese Art pflegten ihre Begegnungen gewöhnlich zu enden – eine abweisende Grimasse, von der er nie recht wusste, wie er sie interpretieren sollte. Aber die Schatten verzogen sich nach ein oder zwei Tagen, und es folgte oftmals eine ziemlich lange Zeitspanne, in der Ruhe, gute Stimmung und weniger Spannung herrschten.
Er winkte ihr. Er hätte gern mehr über die neuen Gerätschaften im Wohnzimmer erfahren, aber da würde er sich gedulden müssen.
Er nutzte diesen Umstand, um den Rasen zu mähen und Myriam so oft wie möglich in ihrer Zweizimmerwohnung in der Stadt zu besuchen, wobei schon der Dreiklang der Klingel ihn bis in die Zehenspitzen erschauern ließ. So oft wie möglich hieß im Moment etwa zweimal am Tag: morgens, vor seinem Creative-Writing-Seminar, und am späten Nachmittag, auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit, ehe er nach Hause fuhr. Das war doch recht intensiv, und zugleich hielt er – ohne dass man behaupten konnte, nur der Sex, dem er sich mit Leidenschaft und Regelmäßigkeit hingab, sei dafür verantwortlich – hervorragende Seminare, sehr praxisnah, sehr scharfsichtig, sehr beseelt und von den Studenten zunehmend geschätzt – von Annie Eggbaum mehr als von allen anderen.
Die meisten Schriftsteller in diesem Land taugten nichts. Sie waren perfekte Beispiele dafür, was man nicht tun sollte. Sehr gute Beispiele. Seine Studenten amüsierten sich. Wenn er schon keine guten Schriftsteller aus ihnen machen konnte, so hoffte er doch, zumindest gute Leser aus ihnen zu machen. Die sich aufs Zuhören verstanden. Er stellte sie nebeneinander auf und begann eine Passage von Raymond Carver vorzulesen, oder von einem anderen dieses Formats, und gab mit seinem Fuß und seinen Händen den Takt vor, und wenn sie bereit waren, wenn sie verstanden hatten, was da vor sich ging, stimmten sie einer nach dem anderen mit ein, im Rhythmus, dann gesellten sich immer neue Leser hinzu, und bald riss der Fluss sie mit. Und wirklich, die jungen Leute verstanden es. Man musste ihnen die Sachen ziemlich lange erklären, manchmal beharrlich sein, aber sie erfassten den Takt viel schneller als die langweiligen alten Giftzwerge des Literaturbetriebs – was das betraf, war er froh, kein Schriftsteller zu sein, nichts mit diesen Leuten zu tun zu haben, da machte er sich lieber nicht die Finger schmutzig.
Myriam stimmte ihm zu. Nicht, dass sie sich anmaßte, auf diesem Gebiet eine Spezialistin zu sein, aber er hatte ihr schon lange Vorträge über Freud und Leid des guten Stils gehalten, über die immerwährende Sorgfalt, die man bei jeder Entscheidung anzuwenden hatte, über die verschiedenen Konflikte, die innerhalb eines Satzes auftreten konnten, über die Opfer, die man bringen musste, über den unbedingten Vorrang der Sprache, über den Spannungsbogen, die Beständigkeit, das Feilen, die Unbedingtheit, die Selbstaufgabe. Sie kannte sich allmählich ganz gut aus
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