Die Rastlosen (German Edition)
ein Beatnik mit Koffer und Kulturbeutel in der Hand bei ihr aufschlug. Das konnte er sich absolut nicht vorstellen. Das wäre an Stillosigkeit nicht zu überbieten. Sie hatten Besseres verdient. Sie küssten sich. Immerhin bestand die Möglichkeit, auch wenn es noch so unwahrscheinlich anmutete, dass eines schönen Morgens ihr Mann zurückkehrte, wieder ausgespuckt vom schwarzen Loch Afghanistan. Die Möglichkeit besteht, sagte sie. Für die Streitkräfte war ihr Mann nicht tot, sondern vermisst gemeldet.
Er hatte größtes Verständnis. Das alles war sehr einleuchtend. Sie solle sich keine Sorgen machen, er habe größtes Verständnis für ihre Lage. Nur nichts überstürzen. Wichtig war für ihn einzig und allein, dass er sie sehen konnte, so oft er wollte – das war alles, was für ihn zählte, denn nur so konnte er das schreckliche Klima ertragen, das nun zu Hause vorherrschte, die schlimmste Stimmung, die er je erlebt hatte auf ihrem langen Weg als Bruder und Schwester.
Kein Wunder, dass nach einer kurzfristigen Besserung wieder seine Migräneanfälle einsetzten. Am Morgen hatte er sich gegen Ende seines Seminars am Schreibtisch festhalten müssen, weil ihn eine Art Schwindel ergriffen hatte. »Ist alles in Ordnung, Marc?«, erkundigte sich Annie Eggbaum, die die Gelegenheit nutzte, um ihn zu stützen und ihn an sich zu drücken, als er schwankte. »Ich frage mich, was Sie ohne mich machen würden«, meinte sie, als sie ihn zu einem Stuhl führte.
Die Ursache dafür war eigentlich, dass er seit zwei Tagen nichts gegessen hatte – und noch dazu sexuell voll beansprucht und mit den Provokationen seiner Schwester konfrontiert gewesen war. Sie lockerte seine Krawatte, knöpfte ihm den Hemdkragen auf und fächelte ihm mit dem Heft, in dem sie sich nun brav Notizen machte, Luft zu. »Geht es Ihnen gut, Marc? Kann ich Ihnen helfen?«
Jedes Mal, wenn sie ihn mit seinem Vornamen anredete, verschlug es ihm wegen dieser erzwungenen Nähe beinahe die Sprache, aber da er den eigenwilligen Charakter der jungen Frau kannte, schienen die Freiheiten, die sie sich herausnahm, nicht verhandelbar zu sein. Wie auch immer, anschließend geleitete sie ihn in die Cafeteria, die während der Unterrichtsstunden praktisch leer war, und holte ihm ein Kuchenstück mit Baiserhaube, das er ohne Widerrede verschlang und für das er sich anständig bedankte.
»Sie bekommen alles von mir, was Sie wollen«, sagte sie, als er seinen Orangensaft mit einem Strohhalm leerte, den er geschickt in seine Richtung gebogen hatte und nun zwischen zwei Fingern hielt. Er schüttelte den Kopf, sein Blick schweifte ab – zu einem Beet blauer Hortensien, das vibrierte wie eine Staubwolke.
»Wer ist diese Frau überhaupt?«, fing sie wieder an.
»Diese Frau hat einen Namen. Sie ist die Stiefmutter von Barbara. Sie heißt Myriam. Aber was geht Sie das eigentlich an?«
»Was soll diese Vorliebe für alte Schachteln? Was hat das zu bedeuten?«
»Alt? Wie kommen Sie denn darauf? Sie ist nicht alt. Übrigens, wenn Sie mich fragen, ist es pure Verschwendung, sich umzubringen, bevor man sechzig ist.«
»Ich traue ihr nicht über den Weg. Zuallererst: Wie kann man bloß einen Soldaten heiraten? Oder irgendeinen anderen Typen mit Uniform? Das ist doch nicht normal, oder?«
»Weiß Gott, wo uns das Leben hinführt, Annie, weiß Gott, was man am Ende für eine Ernte einfährt. Man entscheidet sich für den einfachsten Weg, und plötzlich wird alles ganz schwierig. Wissen Sie, man verbringt den größten Teil seines Lebens damit, für seine Fehler zu büßen, das ist so, das habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Das erweist sich jeden Tag aufs Neue.«
»Sie sind ja mal wieder froh und munter, so am frühen Morgen.«
»Die Frage ist nicht, ob ich froh und munter bin oder nicht, Annie. Wie könnte man heute noch mit gutem Gewissen froh und munter sein, außer man ist Zyniker oder steinreich? Sagen Sie’s mir.«
Er rauchte eine Zigarette mit ihr und empfahl ihr, Sherwood Anderson und William Saroyan zu lesen – so würden die Dinge Stück für Stück ans Licht kommen, bis zur völligen Vernichtung der Finsternis.
»Lenken Sie nicht vom Thema ab«, sagte sie. »Soll ich mich über sie schlaumachen? Mein Vater kann jemanden beauftragen, der sich darum kümmert. Das ist keine Sache.«
»Nein, danke, Annie, wirklich nicht. Auf keinen Fall. Ich möchte nichts erfahren, nicht auf diese Weise. Ich bitte Sie, das zu respektieren, wären Sie so freundlich?«
Er
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