Die Ratten im Maeuseberg
wieder um. Ganz
langsam. In aller Ruhe. Ohne bestimmtes Ziel. Oder hatte ich Sehnsucht nach
meinem Bekannten? Oder nach der Rothaarigen? Schon eher.
Ich befand mich wieder ganz in
der Nähe des Hauses. Da zerriß ein Schrei die Stille der Nacht.
5 .
Rot ist
Trumpf
An den nahen Bahngleisen
rangierte eine kurzatmige Lokomotive. Sie spuckte weißen Rauch, der sich in den
nächtlichen Himmel schraubte, Richtung Mond. Zischend dampfte die Lokomotive
ab. Dann war es wieder still. Kein weiterer Schrei. Kein Fensterladen, der
geöffnet wurde. Kein Neugieriger zeigte sich an keinem Fenster keines Hauses.
Kein Zweifel: Der Schrei war
aus der Bruchbude gekommen, in der auch Ferrand hauste.
Ich klopfte meine Pfeife aus,
steckte sie wieder in die Tasche und stürmte ins Haus. Den Gestank kannte ich
inzwischen. Ich nahm mir nicht die Zeit, den Lichtschalter zu suchen.
Orientierte mich an dem schmierigen Geländer und rannte nach oben, zwei, drei
Stufen auf einmal nehmend.
Ich kam nicht weit. Da war
etwas in der Dunkelheit. Unbeweglich. Totenstill, zur Abwechslung. Ich stieß
dagegen, versuchte instinktiv, es zu packen. Der Versuch wurde durch einen
harten Schlag beendet. Wahrscheinlich aufs Geratewohl ausgeteilt, aber ich stand
goldrichtig. Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte die Treppe runter. Ich
versuchte, wie eine Katze zu landen, um meinem Kopf das Schlimmste zu ersparen.
Leider bin ich keine Katze. Jemand stürzte an mir vorbei. Hörte sich an wie
Flügelschlagen. Ich ließ ihn stürzen, benommen wie ich war.
Dann versuchte ich fluchend,
wieder auf die Beine zu kommen.
In meiner Hand spürte ich noch
eine eiskalte Brust, klein und fest. Hatte sie im Vorbeigehen zu fassen
gekriegt. Die Brust war in diesem Haus weder jetzt noch vorher am rechten Ort.
Ich riß ein Streichholz an. Die
Brust hatte sich mit allem, was dazugehörte, aus dem Staub gemacht. Ich war
mutterseelenallein mit meinem Schwindelgefühl, dem Dreck, der auf den Stufen lag
(ein Latschen hatte sich noch dazugesellt), und den Schmierereien an der Wand.
Ach ja: und der Stille. Vor allem diese dichte, lastende Stille.
Ein sehr amüsantes Haus. Jeder
für sich und Gott für uns alle! Ohren gespitzt, aber Mund und Türen geschlossen.
Ich ging wieder nach oben.
Zweiter Versuch. Tastend, mucksmäuschenstill, so wie alle hier. Vor Ferrands
Tür horchte ich. Stille, Hitze. Dazu der Gestank. Ich lehnte mich gegen die
Tür. Sie ließ sich mühelos aufschieben. Nur die rostigen Angeln quietschten.
Ich suchte den Lichtschalter, fand ihn und machte Licht. Der Nachtfalter nahm
wieder seinen kopflosen Kampf gegen das fahle Licht auf. Er schien gewachsen zu
sein. Die Schatten, die er warf, waren riesig, phantastisch. Sie strichen über
das kantige Gesicht der Ratte von Montsouris. Verliehen ihm so was wie Leben.
So was Ähnliches. Zu mehr reichte es nicht mehr.
Ich bin auf was gestoßen...
Etwas, was Glück bringt...
„Ja, Scheiße, verdammte!
Er lag mehr oder weniger
friedlich auf dem Rücken, parallel zum Bett, die Füße am Kopf-, den Kopf am
Fußende. Um ein Haar hätte sein Kopf ein paar Meter weiter weg gelegen. Der
Rasiermesserschnitt hatte ihn fast vom Rumpf getrennt. Ein Meisterstück.
Erinnerte mich an die Kolonialzeit. Überall Blut. Der süßlich fade Geruch fing
an, alle anderen Duftnoten zu übertreffen.
An der Glühlampe knisterte es.
Der Falter hatte sich zu weit vorgewagt. Er fiel mit seinen verbrannten Flügeln
in die klaffende Wunde an der Kehle des Toten, zuckte noch ein paar Sekunden —
wie ein Vampir, der sich an der Quelle des Lebens labt — und krepierte dann wie
sein Wirt.
Plötzlich schoß es mir durch
den Kopf, daß ich gute Chancen hatte, die beiden auf ihrem Weg zu begleiten.
Sofort legte ich die Hand auf meine Kanone — besser gesagt, auf die Stelle, wo
ich sie normalerweise trage. Ach ja, richtig! Ich war ohne Waffe gekommen. Ich
spürte die Dunkelheit des Hausflures in meinem Nacken. Doch als ich mich
umdrehte, stand niemand hinter mir. Gott sei Dank! Leise schloß ich die Tür.
Dann widmete ich mich noch mal meinem toten Bekannten. Warum, weiß ich heute
noch nicht. Vielleicht, um mich zu erholen. Jedenfalls konnte ich nichts mehr
für ihn tun, höchstens die Totenmesse singen. Kann ich aber nicht. Ihn zu
durchsuchen, war einigermaßen kompliziert. Überall war dieser rote Saft
verspritzt. Hemd, Hose, alles schien blutdurchtränkt. Trauerfarbe rot. Die
Leichenfledderei wäre sowieso nutzlos gewesen, wie ich plötzlich
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