Die Ratten im Maeuseberg
zu
verführen.
Heute abend sah ich sie mit ganz anderen Augen als beim letzten Mal. Komischer Gedanke, daß
ihr Vater mit zusammengebundenen Händen aufs Schafott gewandert war...
„Ich bin gekommen“, begann ich,
„um Monsieur Gaudebert Bericht zu erstatten. Sie haben doch sicher in den
Zeitungen gelesen, daß Ferrand seine postlagernde Sendung gar nicht abholen konnte.
Er ist nämlich tot.“
„Ja, das hab ich gelesen“,
sagte sie mit ihrer sanften, kühlen Stimme ohne eine
Spur von Erregung. „Setzen Sie sich doch, Monsieur Burma. Monsieur Gaudebert
wird gleich kommen. Zigarette?“
„Wenn Sie gestatten, rauche ich
lieber Pfeife.“
„Wie Sie wollen.“
Sie nahm sich eine Zigarette.
Ich gab ihr Feuer. Nachdem sie sich in den Sessel gesetzt hatte, nahm ich
ebenfalls Platz und holte meine Pfeife raus.
„Monsieur Gaudebert kann von
jetzt an ganz beruhigt sein“, stellte ich fest.
„Ja, sicher.“
Sie straffte ihren Oberkörper
und blies den Rauch zur Decke. Ihre Augen blitzten, ein Lächeln huschte über
ihre Lippen.
„Sie machen einen fröhlichen
Eindruck“, bemerkte ich.
„Großer Gott! Sieht man mir das
an?“ kokettierte sie. „Na ja, ich hab keinen Grund, es zu verheimlichen, oder?
Das schöne Wetter! Das macht mich glücklich. Und Sie? Macht schönes Wetter Sie
nicht glücklich?“
„Doch... Schöne Dinge machen
mich immer glücklich.“
Sie hatte ein Bein
untergeschlagen. Dadurch war ihr Rock eine Idee zu hoch gerutscht. Sie brachte
es wieder in Ordnung.
„Oh, das ist nicht nett von
Ihnen, Monsieur Burma! „ protestierte sie fröhlich.
In ihrer Stimme lag nicht der
geringste Vorwurf. Sie wirkte wie eine verdorbene Vierzehnjährige, die sich
einen Spaß macht.
„Schöne Dinge machen mich
glücklich, ja“, wiederholte ich. „Häßliche Dinge dagegen hasse ich. Zum
Beispiel die Todesstrafe. Ich bin strikt dagegen. Meiner Meinung nach ein
barbarischer Brauch.“
Ihre Lippen zitterten:
„Wirklich? Und warum dieses
Glaubensbekenntnis?“
„Ach, wissen Sie, ich haben einen ganz besonderen Beruf. Ich suche, schnüffle
herum
Ihr Gesicht bekam einen leicht
harten Ausdruck. Sie senkte den Blick und sah mich durch den dichten Vorhang
ihrer Wimpern an. Ihr Atem ging heftiger.
„Sie... schnüffeln herum?“
fragte sie.
„Ja. Und ich habe rausgekriegt,
daß Sie Henriette Castellenot sind, Tochter eines gewissen Raoul Castellenot.
Mehr brauch ich Ihnen ja nicht zu sagen.“
Sie lachte laut los.
„Ach, das haben Sie
rausgekriegt! Das ist kein Geheimnis. Manche meinen... Erpresser zum
Beispiel... Neigen Sie vielleicht zum Erpressen, Monsieur Burma?“
„Nein.“
„Gott sei Dank. Für Sie. Wir
werden zwar nicht gerne daran erinnert, Monsieur Gaudebert und ich, aber
erpressen lassen wir uns nicht.“
„Erpressen ist ein sehr weiter
Begriff“, sagte ich. „Man kann das Leben eines Mannes vergiften; eines Mannes,
der sich, sagen wir, in einer schwierigen Lage befindet... oder glaubt, sich in
einer besonders schwierigen Lage zu befinden. Mit einer vagen Drohung zum
Beispiel.“
„Vage ist der richtige Ausdruck
für das, was Sie mir da erzählen“, gab sie zurück. „Ich verstehe nicht, was Sie
meinen, Monsieur Burma.“
„Werd’s Ihnen erklären. Ich
weiß weder, wann noch wo oder wie Sie sich um den Hals gefallen sind, Sie und
Gaudebert. Auch nicht, wie lange Sie glücklich waren. Aber eins weiß ich: Wenn
er leidet, sind Sie nicht unglücklich.“
„Und wie kommen Sie darauf?“
„Ihre Blicke, Ihr Benehmen...“
„Sie irren sich.“
„Da ist noch was anderes.
Ferrand.“
„Ach ja, der Erpresser.“
„Ja, der Erpresser. Er gehörte
zu den Einbrechern, die seit einiger Zeit das Viertel unsicher machen. Auch
hier haben die Ratten von Montsouris reingeschaut. Ihr Dienstmädchen hatte
frei. Monsieur Gaudebert war ebenfalls nicht hier. Nur Sie, Sie konnten hier
sein... Verstehen Sie jetzt, was ich meine?“
Sie lächelte verschmitzt. Die
Fröhlichkeit, die für einen Moment aus ihren Augen verschwunden war, kehrte
wieder zurück. Sie schüttelte den Kopf.
„Kein Wort“, sagte sie.
„Sie waren hier im Hause. Die
Einbrecher kommen. Sie tun nichts, verstecken sich. Aber Ferrand entdeckt Sie.
Er war ein Freund Ihres Vaters, ein Komplize. Er erkennt Sie. Oder Sie erkennen
ihn. Oder Sie erkennen sich. Kommen ins Gespräch und kochen diese
Pseudo-Erpressung aus, um Gaudeberts Leben, wie ich schon sagte, zu vergiften.
Sie hassen ihn, weil das wirklich ‘ne tolle
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