Die Ratten
zu streichen. Er wußte von Männern und Frauen, einschließlich Lehrern, die bereits ihre Arbeitstellen wegen ihres Andersdenkens verloren hatten.
Nein, es war nicht gut, von der Bürokratie und den Behörden überwuchert zu werden, denn er wußte zu gut, daß es auf allen Ebenen Gleichgültigkeit gab. Der Gasmann, der es unterließ, eine undichte Leitung zu reparieren. Der Mechaniker, der vergaß, eine Schraube festzudrehen. Der Lkw-Fahrer, der mit 120 Sachen im Nebel fährt. Der Milchmann, der nur einen Liter liefert statt zwei.
Eine Liste, die sich beliebig fortsetzen ließe. Es kam nur auf das Ausmaß der Verfehlung an. War das nicht die Erbsünde, die Wurzel allen Übels? Wir alle haben Schuld. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Um viertel nach sechs erwachte Harris, als die Haustür zufiel und eilige Schritte auf der Treppe nahten.
»Hallo, Jude«, sagte er, als Judy atemlos und mit gerötetem Gesicht in die Wohnung stürzte.
»Hallo, Faulpelz.« Judy küßte seine Nase. »Hast du schon die Zeitung gelesen?«
Sie entfaltete eine Abendzeitung und zeigte ihm die Schlagzeilen, die weitere Todesfälle durch Ratten verkündeten.
»Ich weiß. Ich war dort.« Er erzählte ihr von den Ereignissen des Tages, seine Stimme klang dabei hart und gefühllos.
»O Liebling, es ist schrecklich. Diese armen Leute. Und du. Es muß entsetzlich für dich gewesen sein.« Judy streichelte über seine Wange und spürte, daß sein Zorn tiefere Gefühle verdeckte.
»Ich finde es einfach zum Kotzen, Jude. Daß Leute heutzutage sinnlos sterben. Das ist Wahnsinn.«
»Da hast du recht, mein Schatz. Man wird das bald stoppen. Es ist nicht wie in alten Zeiten, als solche Dinge außer Kontrolle gerieten.«
»Das ist nicht der springende Punkt. Es hätte gar nicht erst passieren dürfen.«
Plötzlich entspannte sich Harris, seine natürliche Abwehr, wenn etwas für ihn unerträglich wurde. Wenn er einen gewissen Punkt erreichte und erkannte, daß er nichts gegen die Dinge tun konnte, verdrängte er sie aus seinen Gedanken.
Er lächelte Judy an. »Laß uns das Wochenende von hier verschwinden, ja? Laß uns deine alberne, alte Tante in Walton besuchen. Die frische Luft wird uns beiden guttun.«
»Einverstanden.« Judy schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn fest an sich.
»Was gibt es zum Abendessen?« fragte er.
Der Rest der Woche verlief ruhig, was die Ratten anbetraf. Es hatte einen öffentlichen Aufschrei gegeben, die übliche Kampagne der Presse für die Säuberung Londons, hitzige Debatten von Politikern und Raismitgliedern im Fernsehen und sogar ein Statement vom Premierminister. Große Gebiete des Hafenviertels wurden abgeriegelt, und die Schädlingsbekämpfer gingen an die Arbeit. Die Hafenarbeiter streikten zwei Tage, bis man sie überzeugte, daß keine Spur von Ratten gefunden werden konnte. Kanäle, die zum Hafen führten, wurden von Polizisten und Soldaten abgesucht, doch man fand keine größeren als die üblichen Nagetiere, und auch davon nicht viele. Berichte von großen, schwarzen Ratten gab es regelmäßig, doch bei den Ermittlungen stellte sich für gewöhnlich heraus, daß man einen Hund oder eine Katze gesehen hatte. Die Kinder wurden von den Eltern zur Schule gebracht und abgeholt, wenn irgendeine stille Straße auf dem Weg lag. Auf unbebauten Grundstücken und Spielplätzen wurde es ungewöhnlich still. Tiergeschäfte in ganz London verkauften Katzen und Hunde wie noch nie. Experten legten Gift aus, doch die Opfer waren stets Mäuse oder die üblichen kleineren Ratten.
Keine einzige große, schwarze Ratte wurde gefunden.
Bald verloren die Leute das Interesse, da andere Nachrichten die Schlagzeilen beherrschten. Geschichten von Vergewaltigung, Raub und Brandstiftung mit und ohne politische Motive wurden neue Gesprächsstoffe. Obwohl die Suche nach den Ratten weiterging, Chemikalien ausgelegt wurden, um die Ratten zu vergiften, und nach wie vor nichts gefunden wurde und es auch keine weiteren Todesfälle gab, betrachtete man die Sache als erledigt.
Foskins war immer noch beunruhigt, und er sorgte dafür, daß sein Ministerium die Sache bis zum Ende verfolgte; das Ende war die Ausrottung aller Schädlinge, die möglicherweise bei Menschen oder Besitz Schaden anrichten konnten. Es wurde jedoch bald offensichtlich, daß es eine unmöglich zu bewältigende Aufgabe war, wenn die Regierung nicht mehr Geld und Hilfe gab, doch als der Aufschrei der Bevölkerung nachließ, verstummte auch das Gerede vom
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