Die Rattenhexe
vorn. Dabei humpelte sie. Ich sah auch das Blut aus der Wunde an ihrer Wade rinnen. Zum Glück konnte sie sich an der Lehne eines Stuhls festklammern, sonst wäre sie womöglich zu Boden gefallen, bevor ich sie noch erreichte.
Bebend stand sie da. Andere Gäste waren ebenfalls aufgestanden. Man schaute zu uns hin. Fragen schwirrten uns entgegen, aber Antworten bekamen die Leute nicht.
»Okay, es ist alles gut, Miß. Was war los?«
Die Kleine atmete schwer. Sie klammerte sich an mir fest. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Das – das Tier war so schnell. Und es hat mich gebissen.«
»Welches Tier?«
Ihr Gesicht verzog sich zu einem gequälten Ausdruck. Die Finger krallten sich in meine dünne Jacke. »Ich habe es nicht gesehen, Mister. Ein Hund vielleicht…«
»Oder eine Ratte?«
Die Bedienung keuchte plötzlich. Ein Schauer der Angst rann über ihren Körper hinweg. »Ratte? Nein! Nein – das – war – keine – Ratte! Das wäre ja furchtbar gewesen. So etwas darf nicht sein. Ich hasse Ratten.«
»Schon gut, es war ein Hund. Aber setzen Sie sich zunächst einmal. Ich schaue nach Ihrer Wunde.«
»Ja, danke.«
Ich rückte ihr den Stuhl zurecht und drückte sie auch nieder. Sie streckte das rechte Bein aus.
Es tropfte noch immer Blut aus der Wunde.
Jemand lief keuchend herbei. Ein Mann mit einer Halbglatze und einem durchschwitzten gelben Hemd. »Ich bin der Geschäftsführer hier. Was ist denn passiert? He, Ming, was ist los?«
»Sie ist gebissen worden«, antworte ich anstelle der Kellnerin.
»Gebissen? Hä, von wem?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Keine Zecke – oder?«
»Quatsch!« Ich zeigte ihm die Wunde. »Sehen so etwa Zeckenbisse aus, Mister?«
»Nein, das nicht!« flüsterte er und schüttelte sich. »Das sieht ja schlimm aus.«
Er hatte recht. Die Wunde war ziemlich tief. Mehrere Zähne hatten sich in das Fleisch hineingeschlagen, deshalb auch die starke Blutung.
»Soll ich einen Arzt holen?«
»Ja, tun Sie das.«
Der Geschäftsführer verschwand. Einen glücklichen Eindruck machte er dabei wahrlich nicht. Auf dem Weg zum Haus hin schrie er andere Kellnerinnen an, damit sie sich um die Gäste kümmerten.
Ming lächelte mich tapfer an. »Gleich wird ein Arzt hier sein, der Ihre Wunde versorgt.«
Um die Blutung zu stillen, band ich ein sauberes Taschentuch um die Wade und knotete es zusammen.
War das Tier eine Ratte gewesen?
Die Bedienung hatte es nicht genau erkennen können.
Und ich auch nicht, wenn ich ehrlich war. Aber ein Hund löste sich nicht einfach von der Leine oder ließ seinen Herrn oder seine Herrin im Stich, um jemanden zu beißen. Es sei denn, man hatte ihn manipuliert, das war mir schon mal widerfahren. Ebenfalls in einem Biergarten.
»Danke«, sagte Ming leise, »daß Sie mir geholfen haben.«
»Nicht der Rede wert.«
»Doch, andere hätten nur zugeschaut. Wer bin ich schon?«
Ich hob den Blick, damit sie mich anschauen konnte. »Sie sind ein Mensch, Ming. Ein Mensch wie jeder andere auch.«
Sie lächelte plötzlich, und ich erhob mich aus meiner hockenden Haltung.
Der Mann mit der Halbglatze hatte inzwischen einen Arzt aufgetrieben.
Der war unter den Gästen gewesen und hatte weiter vorn gesessen.
Sogar die Arzttasche brachte er mit.
»Lassen Sie mich mal sehen, Mister«, sagte er und nahm meinen Platz ein.
Ich wußte Ming in guten Händen, aber ich ging auch weiterhin davon aus, daß sie von einer Ratte angefallen worden war, obwohl mir der letzte Beweis fehlte.
Das machte aber nichts. Ich würde es herausbekommen. Und noch etwas war wichtig.
Wenn eine Ratte auftauchte, dann hatte sich immer Senta de Fries in der Nähe befunden. Das war in der vergangenen Nacht so gewesen und jetzt auch.
Darüber wollte ich mit ihr reden.
Nein, das konnte ich nicht mehr. Der Tisch, an dem wir beide gesessen hatten, war leer. Ich ging trotzdem schnell hin und entdeckte den Zettel, den sie unter das leere Bierglas geklemmt hatte. Sie hatte mir eine Nachricht hinterlassen.
>Die Rechnung ist bezahlte las ich. >Wir sehen uns später. Gruß Senta.< Ich schwieg und atmete durch die Nase. »Ja«, sagte ich dann zu mir selbst, »wir sehen uns später. Ganz sicher sogar…«
***
Danach ging ich wieder zurück zu der gebissenen Kellnerin, vor der der Arzt kniete. Er war noch dabei, einen Verband anzulegen. Er unterhielt sich mit Ming und machte ihr Mut. »Das wird sicherlich bald vorbei sein, Miß.«
»Wann kann ich denn wieder arbeiten?« fragte sie leise. »Ich
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