Die Rattenhexe
überhaupt überleben, das hat sie mir immer wieder gesagt.«
»War es Ihr Wunsch, daß Senta hier auftrat?«
»Nein, denn ich habe sie nicht gebeten. Aber ich suchte für meinen Club nach einer Attraktion. Als ich mit Senta darüber sprach, machte sie den Vorschlag.«
Ich schaute auf den Glaskasten und wunderte mich. Sie traf noch keine Anstalten, das ›Gefängnis‹ zu verlassen. Senta hockte jetzt auf dem Boden. Die Ratten wieselten um sie herum, und sie wurden von ihr liebkost und gestreichelt. Die Tiere ließen es mit sich geschehen. Sie trippelten über den fast nackten Körper, auf dessen Haut sich keinerlei Bißstellen abmalten.
Hin und wieder nahm Senta eine Ratte zwischen beide Hände und küßte sie.
Ich mußte schlucken, als ich daran dachte, daß auch ich von dieser Frau geküßt worden war.
»Ja, sie ist schon ungewöhnlich«, sagte Jake Holland. »Sie ist einfach anders, was ich akzeptiere. Die Ratten gehören ihr, sie gehört zu den Ratten, aber auch zu mir. Und deshalb lasse ich sie mir von keiner anderen Person wegnehmen.« Er schaute mich dabei an, und ich wußte, was er damit gemeint hatte.
»Haben Sie mir deshalb Ihren Killer geschickt?«
»Killer?«
»Ist dieser Slatko das nicht?«
»Das kann ich nicht sagen. Er ist mir treu ergeben. Außerdem bezahle ich ihn gut. Ob er gekillt hat, denke ich schon, aber da war Krieg, verstehen Sie?«
»Auf dem Balkan.«
»Ja, wo sonst?«
»Da hat er die Regeln gelernt. Er wollte mich umbringen, und er lebt noch immer in seiner Kriegswelt. Ich würde mir überlegen, ob ich ihn weiter beschäftige.«
»Hören Sie, Sinclair, ich lasse mir keine Ratschläge erteilen. Ich will nur, daß Sie die Finger von Senta lassen, auch wenn sie Sie angemacht haben sollte. Hin und wieder braucht sie die Bestätigung. Ich habe auch nichts dagegen, solange es sich in Grenzen hält. Die meisten Männer verschwinden sowieso, wenn sie eine Ratte in ihrer Nähe sehen. Dann ist für sie alles vorbei.«
»Bei mir wohl nicht.«
»Richtig, und das wundert mich. Sie scheinen ein anderer Typ zu sein, der selbst vor Ratten nicht Reißaus nimmt. Wieso? Warum haben Sie sich noch einmal mit ihr getroffen? Warum sind Sie hier? Weshalb lassen Sie nicht locker?«
»Senta interessierte mich eben.«
»Das ist…«
»Moment, Holland, lassen Sie mich ausreden. Sie interessiert mich als Phänomen. Ich will mehr über sie wissen. Daß der Rattenfänger von Hameln eine Legende oder eine Sage ist, das weiß ich selbst, aber ich wundere mich, wie diese Sagen plötzlich real werden können. So wie es bei Senta der Fall ist.«
»Es liegt an ihrer Kindheit und Jugend.«
»Das sagten Sie bereits.«
»Finden Sie sich damit ab, Sinclair!«
»Und wenn nicht?«
Jake Holland überlegte nicht lange, obwohl er schon ein wenig überrascht war. »Glauben Sie nicht, daß wir stärker sind? Sie hält zu mir, nicht zu Ihnen. Sie werden ihr Geheimnis niemals ergründen können, das gebe ich Ihnen schriftlich.«
Ich schaute ihm direkt in die dunklen Augen. »Sie gehen bis zum Mord, nicht wahr?«
»Wenn es sein muß, schon. Sie müssen verstehen, Sinclair. Das hier ist meine Welt. Ich lebe davon. Ich habe die Attraktion, und ich stehe zu Senta in einem besonderen Verhältnis. Das sollten Sie sich merken, Sinclair.«
»Das habe ich bereits.«
»Dann bin ich zufrieden.«
Meine nächsten Worte sorgten bei ihm für eine Veränderung. »Trotzdem werde ich mir Slatko vornehmen. Da können Sie sagen, was Sie wollen, Holland.«
»Sie haben mich nicht verstanden, wie?« Ich hörte seine Antwort als böses Zischen.
»Doch«, erwiderte ich. »Nur mag ich es nicht, wenn man mich umbringen will.«
Er schaute mich verächtlich an. »Was wollen Sie schon gegen Slatko unternehmen?«
»Lassen Sie sich überraschen.«
Meine Antwort konnte ihm nicht gefallen. Er suchte selbst nach Worten, ohne allerdings die richtigen so schnell zu finden. Wahrscheinlich hatte er Mühe damit, mich richtig einzuschätzen. Ich blieb gelassen, während Holland nervös über seinen Nackenzopf strich und sich schließlich zu einer Frage durchrang.
»Wer sind Sie, Sinclair?«
»Ein Gast.«
»Ja, jetzt und in diesem Augenblick. Aber ich glaube nicht, daß Sie hier nur etwas erleben wollen.«
»Was will ich denn sonst noch?«
Holland deutete auf den Glaskäfig. »Sie wird es mir sagen, denn sie hat das Gespür.«
»Für Menschen?«
»Ja, oder denken Sie nur für Ratten? Diese Frau ist etwas Besonderes. Sie lebt zwischen den
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