Die Rebellen von Irland
Mutter hatte, bevor sie in die Grafschaft Wicklow gekommen war, in der großen Hungersnot ihre ganze Familie verloren. Und sie hatte ihrer Tochter immer wieder eingeimpft, dass die Engländer die Iren mit der Hungersnot absichtlich hatten vernichten wollen.
Am besten sollte der kleine Willy sich freilich an einen ganz bestimmten Tag im Oktober erinnern.
***
»Komm mit, Willy«, hatte sein Vater gesagt. »Wir besuchen Mrs Budge im Gutshaus.« Er hatte gelächelt. »Sie wird dich schon nicht fressen.«
Willy war sich da nicht so sicher.
Die Rückkehr von Rose Budge nach Rathconan in jenem Sommer hatte großes Aufsehen erregt. Zwar hatte ihr Vater ihr das Gut vor einigen Jahren hinterlassen, doch hatte man sie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr dort gesehen. An ihren Mann, Oberst Browne, erinnerte man sich kaum noch, obwohl Willy seinen Vater einmal von ihm hatte sprechen hören. »Er war ein großer Gentleman und Jäger. Er setzte über jeden Zaun. Meines Wissens war er auch ein Gelehrter.«
Letzteres stimmte. Der Oberst war nicht nur ein tüchtiger Mathematiker, sondern auch ein ausgezeichneter Sprachwissenschaftler. Er war als Soldat nach Indien gekommen und hatte sich dort mit der indischen Kultur beschäftigt. Dagegen hatte Rose Budges einzige Ausbildung darin bestanden, die Frau eines irischen Grundbesitzers oder Soldaten zu werden. Da sie kinderlos geblieben war, hatte sie notgedrungen die Interessen ihres Mannes übernehmen müssen, wenn sie nicht vereinsamen wollte. Der herzensgute Oberst hatte ihren Fähigkeiten entsprechend so viel wie möglich mit ihr geteilt. Als Ergebnis hatte sich ihre Phantasie wie der Lagerraum eines orientalischen Basars mit einem Sammelsurium exotischer Dinge gefüllt. Und mit all ihren Erinnerungen an orientalische Bräuche und den weiten Himmel Indiens war Rose Budge nach dem vorzeitigen Tod des Obersts Anfang des Jahres nach Rathconan zurückgekehrt, um als Letzte der Budges in das Haus ihrer Väter einzuziehen – eine Frau mittleren Alters, doch immer noch mit der zartgliedrigen Gestalt ihrer Jugend.
Willy und sein Vater wurden in die Bibliothek gebeten.
Die Bibliothek verfügte zwar über zwei Fenster und einen Kamin, war aber klein und hatte stets nur einige wenige Bücher enthalten. Trotzdem war, wer sie betrat, unwillkürlich beeindruckt.
Trotz des warmen Oktobertags draußen waren die Fenster fest geschlossen, und im Kamin brannte ein Feuer. Die Vorhänge waren zugezogen, nur in der Mitte blieb ein heller Spalt, durch den die Sonne wie ein Messer stach. Offenbar nahm Rose Budge in der Bibliothek auch Mahlzeiten zu sich, denn ein fremdartig süßer, würziger Currygeruch hing in der Luft und machte Willy ein wenig benommen. An der Wand hing das Bild eines indischen Tempels unter einem orangeroten Himmel, der ebenfalls nach Curry gerochen haben musste. In einem leeren Bücherregal stand ein schwarzer Rahmen mit der bräunlichen Fotografie einer orientalischen Wandschnitzerei. Die Schnitzerei zeigte eine so unverhüllt erotische Szene, dass der Vater seinem Sohn sofort die Augen hätte zuhalten müssen, wenn dieser die Darstellung verstanden hätte. Doch Willy sah das Foto gar nicht. Stattdessen starrte er erschrocken Mrs Budge an.
Sie saß aufrecht auf einem Stuhl mit hölzerner Lehne, bekleidet mit einem langen, dunkelroten Gewand und einem Turban.
Nur sie selbst wusste, warum sie die seltsame Kopfbedeckung trug. Sie hatte den Turban eines Nachmittags im September angefertigt. Sie hatte ihn aufgesetzt, in den Spiegel geschaut und offenbar Gefallen daran gefunden, denn seither trug sie ihn ständig.
»Guten Tag, Mrs Budge«, sagte Fintan.
Bei Mrs Budges Rückkehr war zunächst unklar gewesen, wie man sie anreden sollte. Als Witwe des Obersts hieß sie natürlich Mrs Browne. Doch als das älteste Mitglied des Haushalts, Mrs Brennan, die frühere Köchin ihres Vaters, sie versuchsweise so genannt hatte, hatte die Hausherrin sie nachdenklich angesehen und dann gesagt: »Als ich früher hier wohnte, war ich immer Rose Budge.« Das nächste Mal hatte die Köchin die Anrede »Mrs Budge« ausprobiert und die Hausherrin hatte genickt. Deshalb hieß sie jetzt »Mrs Budge«, eine dezente Erinnerung daran, dass die Familie nach wie vor Herr von Rathconan war.
Offenbar gedachte Mrs Budge sich dauerhaft in Rathconan niederzulassen. Denn auf die Frage ihrer Köchin, ob sie länger hierbleiben wolle, hatte sie geantwortet: »Wo sollte ich denn sonst wohnen? Schließlich lebt
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