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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Park?«, fragte er, schneller als er sich entscheiden konnte. »Ein paar hundert Schritte nördlich der Baustelle?«
    »Sie meinen, bei dem kleinen Buchenwald, wo im Sommer die Hammel weiden? Natürlich. Warum fragen Sie?«
    »Dann möchte ich Sie bitten, morgen früh dorthin zu kommen. Eine Überraschung wartet auf Sie.«

6
     
    »Habt ihr das gehört? Sie haben schon wieder den Stückakkord erhöht!«
    »Wir sollen jetzt achtzig Scheiben am Tag machen! Jeder von uns!«
    Es war noch früh am Morgen, der Tau der Nacht lag noch auf den Wiesen und Bäumen. Doch Hunderte von Arbeitern durchquerten bereits den Hyde Park, auf dem Weg zur ersten Schicht des Tages. Victor kaute noch müde an seinem Frühstücksapfel, während er dem Strom der Männer folgte, und hörte den Gesprächen seiner Kollegen nur mit halbem Ohr zu. Er hatte die Nachtbei Fanny verbracht. Sie hatten erst miteinander geschlafen und sich anschließend gestritten. Fanny wollte, dass er für immer zu ihr zog; ja, sie hatte sich sogar geweigert, für ihre Dienste den üblichen Sixpence von ihm zu nehmen. Doch Victor hatte auf Bezahlung bestanden. Er würde heute Abend nicht wieder zu ihr gehen, lieber schlief er allein in seiner Kammer in der Catfish Row, in der er wohnte, seit er bei Mr. Finch gekündigt hatte.
    »So haben wir nicht gewettet! Das ist Vertragsbruch!«
    »Darauf gibt’s nur eine Antwort: Streik!«
    »Ja, Streik! Zeigen wir’s den Schweinen!«
    Plötzlich war Victor hellwach. War die Zeit reif? Das Arbeitstempo, das den Männern auf der Baustelle abverlangt wurde, nahm unaufhörlich zu. Wie ein gefräßiger Riese, der niemals satt wird, verbrauchte der Pavillon immer größere Mengen an Stahl und Glas, pro Tag inzwischen so viel wie für einen mittelgroßen Bahnhof, und je mehr die Zeit drängte, umso mehr wuchsen die Unzufriedenheit und die Empörung unter den Arbeitern, so wie die Haufen Laub, die sie Abend für Abend unter den Ulmen zusammenkehrten und verbrannten. Wenn die Flammen in der Dunkelheit aufschlugen und das stählerne Gerippe des Rohbaus in dem flackernden Schein zu tanzen schien, stellte Victor sich manchmal vor, dass es nicht die Flammen des Feuers waren, die an dem Skelett leckten, sondern sein eigener Hass.
    »Ich bin gegen Streik«, sagte Harry Plummer und sog an seiner Pfeife. »Wenn wir streiken, holen sie sofort Ersatz. Auf jeden Mann, der streikt, kommen zehn andere, die bereit sind, den Streik zu brechen.«
    »Dann müssen wir denen eben die Fresse polieren«, sagte ein junger Glaser aus Newcastle.
    Plummer blieb stehen und strich sich über den kahlen Schädel. Er war einer der ältesten Arbeiter auf der Baustelle – wenn er etwas sagte, hörte man zu. Ein Dutzend Männer blieb mit ihm stehen und schaute ihn erwartungsvoll an, als er seine Pfeife aus dem Mund nahm.
    »Streik ist die schlechteste Lösung, Leute. Ich war bei dem großen Streik vor acht Jahren dabei. Ganze Familien sind damals zugrunde gegangen. Es ist immer dasselbe. Als Erstes werden die Ersparnisse verbraucht, dann lassen die Frauen anschreiben, um ihre Kinder zu füttern, und wenn sie keinen Kredit mehr haben, verkaufen sie ihre Möbel und Kleider. Doch die Männer bleiben stur, bringen eher ihr Bett aufs Pfandhaus, als dass sie nachgeben, weil sie hoffen, dass ihre Lohnherren das tun. Aber die tun das nicht, nie und nimmer, und am Ende kriechen die Arbeiter zu Kreuze, weil sie das Gejammer zu Hause nicht mehr aushalten, und betteln um die Arbeit, die sie ein paar Wochen vorher verweigert haben. Nein, redet mir nicht von Streik. Dabei kommt nichts Gutes heraus.«
    Während Plummer mit dem Daumen seine Pfeife nachstopfte, blickte Victor in die Runde. Die meisten Gesichter drückten Verunsicherung aus, viele auch Angst. Jeder der Männer, auch der dümmste Handlanger, konnte sich ausmalen, wie die Folgen eines Streiks ihn und seine Angehörigen treffen würden.
    »Sollen wir darum klein beigeben?«, fragte Victor. » Ich bin jetzt zwei Wochen auf der Baustelle, und in den zwei Wochen haben sie zweimal den Stückakkord erhöht. Wir riskieren langsam unseren Hals.«
    »Für achtzig Scheiben am Tag braucht keiner den Hals zu riskieren«, sagte Plummer. »Ich selber habe schon über hundert geschafft.«
    »Und was ist mit Bill McCloud, dem kleinen Schotten aus der Mannschaft von Tom Webber, der gestern von der Leiter gestürzt ist? Beide Beine hat er sich gebrochen, weil er zu schnell und unvorsichtig war, aus Angst, er würde den Akkord nicht

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