Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
hatte den ersten bereits gelöst und ließ ihn in die Tiefe fallen. So schnell sie konnte, machte Emily es ihm nach. Während sie einen Sack nach dem anderen abwarfen, veränderte sich die Fahrt. Statt weiter auf den Pavillon zuzurasen, gewann die Gondel steil an Höhe, und mit knapper Not schwebten sie über die Kuppel hinweg, eine Armlänge von der gläsernen Haut entfernt.
    »Und jetzt?«
    Die zwei blickten sich an. Plötzlich waren sie so allein wie Adam und Eva. Die Menschen auf den Wegen unten im Park, die mit den Köpfen im Nacken immer noch zu ihnen in die Höhe blickten, schienen klein wie Liliputaner, die Häuser, die an die grünen Teppiche der Wiesen und Wälder grenzten, waren kaum größer als Hutschachteln und Schuhkartons, und das Stimmengewirr, das zu ihnen heraufdrang, klang wie das Rufen und Schreien von einem weit entfernten Schulhof.
    »Und wie kommen wir wieder runter?«, fragte Victor.
    Emily versuchte, sich zu erinnern, was Mr. Green ihr erklärt hatte. »Ich glaube, wir können nicht viel mehr tun, als uns treiben zu lassen. Angeblich entweicht das Gas mit der Zeit von selbst, und dann gibt es noch ein Ventil.«
    »Hoffentlich hast du Recht. Ich habe jedenfalls keine Ahnung, wie man so ein Ding fährt.«
    »Hast du Angst?«, fragte sie.
    Er lächelte sie an. »Wenn du keine hast, habe ich auch keine.«
    Mit beiden Händen an der Reling, beugte Emily sich ein Stückchen vor. Lautlos schwebten sie in Richtung Osten, auf die Themse zu, die sich wie eine lange, graue Schlange durch das Häusermeer wand. Unter ihnen glitten die Wahrzeichen der Stadt hinweg: der Buckingham-Palast, Trafalgar Square mit der Nelson-Säule, die neuen Parlamentsgebäude, die St. Paul’s Kathedrale. Dabei hatte Emily das Gefühl, als würden sie sich gar nicht vom Fleck bewegen. Alles war ruhig und still. Kein Fahrtwind blies ihnen ins Gesicht, die Wolken verharrten wie reglose Marschsäulen und Nebeltürme am Himmel, weil auch sie mit dem Wind zogen, genauso wie der Ballon, während die Stadt sich vor ihren Augen entfaltete wie ein Diorama oder eine einzige endlose Landkarte, auf riesige Walzen gezogen, an deren Kurbeln unsichtbare Geister drehten.
    »Ich hätte nie gedacht, dass London so schön aussehen kann«, flüsterte Emily und ließ die Reling los.
    Alle Angst war verflogen, um sie herrschte nur Stille und Reglosigkeit. Als gebe es keine Erdenschwere mehr, schwebten sie durch den unendlichen Raum und tranken die klare, reine Himmelsluft, die nach einem fernen Elysium schmeckte, auf das alles Hoffen und Sehnen gerichtet war.
    Auf einmal merkte Emily, dass Victor ihre Hand hielt, und ein Glücksgefühl erfüllte sie, das sie noch nie empfunden hatte. Hand in Hand sahen sie die Welt zu ihren Füßen, die immer vollkommener schien, je weiter sie sich von ihr entfernten, während von dem großen Ozean des Lebens nur ein leises, unbestimmtes Rauschen an ihre Ohren drang, wie Meeresrauschen in einer Muschel. Das Chaos, der Dreck, das Elend der riesigen Metropole – nichts davon war mehr zu sehen. Nur ein dicht gewobenes Geflecht von Straßen und Gassen, in wunderbarer Ordnung und Harmonie, ein kunstvoller Teppich mit immer wieder neuen Mustern, die sich in immer abstraktere Strukturen auflöste, um in der Ferne, an den Rändern der Stadt, wo Himmel und Erde miteinander zu verschmelzen schienen, in einegrenzenlose Landschaft aus Wäldern und Wiesen und Feldern überzugehen.
    »Ich wollte«, sagte Victor leise, »Toby könnte hier sein und das sehen.«
    Emily schaute ihn an. »Toby?« Plötzlich erinnerte sie sich. »Der Junge, der mich zu dir auf den Jahrmarkt geführt hat? Der kleine Ire mit den falschen Pfefferminzbonbons?«
    Victor wich ihrem Blick aus. Emily spürte, dass er ihr nicht antworten wollte, aus welchem Grund auch immer. Statt ihn zu drängen, schaute sie wieder hinab auf die Kirchen und Wohnhäuser, die Paläste und Fabriken, die Hospitäler und Banken, die Speicherhäuser und Docks, die Parks und Plätze, die Höfe und Alleen. Das alles zusammen war London, die Hauptstadt von England, die sie seit so vielen Jahren kannte und doch noch nie so gesehen hatte. Auf diesem einen Fleck Erde waren alle Tugenden vereint, zu denen Menschen fähig waren, all ihre Talente und Kenntnisse, ihr Wissen und Begehren, all ihr Streben nach Größe und Schönheit und Vollkommenheit, aus dem heraus sie diese Stadt erschaffen hatten…
    In diesem Augenblick begriff Emily, was Gott gemeint hatte, als er einst den Menschen

Weitere Kostenlose Bücher