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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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sich seine Zeitung auf das Gesicht gelegt und schlief.
    »Danke, William.«
    »Und dann sollte ich Sie daran erinnern, dass Lord Gladstone Sie zum Dinner erwartet.«
    »Ach, ja, richtig. Fast hätte ich es vergessen.«
    Paxton stieß einen Seufzer aus. Schon wieder ein Dinner zu seinen Ehren – ungefähr dreimal die Woche musste er eines besuchen. So wichtig diese Zeremonien waren, um die Finanz- und Geschäftsleute der Londoner City bei Laune zu halten, wurden sie ihm manchmal doch zu viel. Erstens stahlen sie ihm wertvolle Zeit, und zweitens hasste er die Lobhudeleien, mit denen man ihn bei solchen Anlässen überschüttete. Die Leute taten alle so, als wäre die Weltausstellung schon so gut wie eröffnet. Sogar die
Times
, die sonst so zurückhaltend war, hatte von seinem Empfang neulich in Derby wie vom Triumphzug eines gekrönten Staatsoberhauptes berichtet – es fehlte nur noch das Glockengeläut! Obwohl Paxton nicht abergläubisch war, wurde ihm bei solchen Übertreibungen unheimlich.
    Er nahm einen Schluck Tee und rieb sich die Augen. Emily hatte ihn überredet, sich eine Brille zuzulegen, jetzt, da er sie hatte, sollte er sie auch nutzen. Bei dem Gedanken an seine Tochter musste er lächeln: Die Ballonfahrt sah ihr ähnlich – immer hochhinaus! Und dass sie dabei vor der Nase ihres Verlobten in die Lüfte entschwebt war… Ach, statt jeden zweiten Abend ein Dinner zu besuchen, wäre er viel lieber bei seiner Familie gewesen. Er vermisste Emily, und auch Sarah, die zusammen über die Feiertage nach Chatsworth gefahren waren, mehr, als er sich eingestehen mochte. Und er vermisste die alljährlich wiederkehrenden Rituale, die diese Zeit stets zu einer so besonderen Zeit machten: die Bescherung am Weihnachtsabend, wenn das ganze Haus nach Punsch und Truthahn duftete, der Kirchgang mit dem Hauspersonal, die Beschenkung der Armen im Dorf… Was waren im Vergleich dazu die kleinen Zerstreuungen im Boudoir einer Soubrette oder Tänzerin, mit denen er sich hier in London versuchte, schadlos zu halten? Aber es half ja alles nichts, an seiner Anwesenheit in der Hauptstadt führte kein Weg vorbei. In Anbetracht der Zeitnot durfte die Arbeit auch zwischen den Jahren nicht ruhen.
    Paxton griff wieder zu seiner Zeitung, doch es gelang ihm nicht, sich auf den Hofbericht vom Weihnachtsfest der königlichen Familie zu konzentrieren. Am Nachmittag erst hatte Prinz Albert ihn auf der Baustelle besucht und all die Fragen angesprochen, die Colonel Sibthorp wieder und wieder in der Öffentlichkeit stellte und die er sich keineswegs aus den Fingern sog. Würde die gläserne Haut des Kristallpalasts einen Hagelsturm überstehen? War das Dach stabil genug, um im Winter auch größere Schneemassen zu tragen, oder würde die ganze Konstruktion wie ein Kartenhaus unter den Lasten zusammenbrechen? Was würde im Sommer sein? Bestand nicht die Gefahr, dass der Pavillon sich in einen Backofen verwandelte? Es gab keinerlei Erfahrung, ob die Belüftung für ein Glashaus dieser Größe ausreichte, um die Temperatur bei fortwährender Sonnenbestrahlung zu regulieren, erst recht nicht angesichts der ungeheuren Menschenmassen, die sie nach Eröffnung der Ausstellung erwarteten. Und würde das Drainagesystem funktionieren? In jedem Glashaus sammelte sich Kondenswasser an, es konnte von der Decke aufdie Besucher herabregnen wie ein Schauer an einem schwülen Sommertag und gewaltigen Schaden an den Exponaten anrichten. Schließlich, was würde passieren, wenn ein Feuer ausbrach? Falls die Scheiben platzten, würde die Luft wie durch einen Kamin in den Pavillon einströmen, sodass sich die Flammen in Sekunden ausbreiten konnten. Doch von alledem durfte Paxton in der Öffentlichkeit nicht reden. Da musste er jedes Problem entschieden von sich weisen und behaupten, dass dem Kristallpalast keine Katastrophe der Welt etwas anhaben konnte. Falls er je etwas anderes sagen würde, würde Colonel Sibthorp über ihn herfallen wie eine Hyäne über ein angeschossenes Tier.
    Von der Eingangshalle näherten sich eilige Schritte. Sir Lindsay wachte mit einem Schnarcher auf. Verwundert blickte Paxton über die Lehne seines Sessels.
    »Mr. Cole? Was führt Sie her? Sie sind ja ganz außer Atem!«
    »Schlechte Nachrichten, Sir! Die Glaser streiken! Sie haben alle Arbeiten eingestellt.«
    Paxton sprang von seinem Sessel auf. »William! Meinen Wagen! Sofort!«
    »Soll ich mitkommen?«, fragte Cole.
    »Nein. Fahren Sie zu Lord Gladstone und entschuldigen Sie mich.«

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