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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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den Auftrag gab, sich die Erde untertan zu machen. Sie zeigte in die Ferne, wo der Kristallpalast in der Sonne funkelte. »Willst du wirklich verhindern, dass der Pavillon fertig wird?«, fragte sie.
    Victor schaute in die Richtung des Gebäudes, doch gab er keine Antwort.
    »Willst du wirklich etwas so Schönes und Großes zerstören? Nur um dich an meinem Vater zu rächen? – Nein«, sagte sie, als er weiterhin schwieg, »ich kann nicht glauben, dass du das willst, nicht, wenn du weißt, was du damit anrichtest.«
    Während sie über die Stadt schwebten, hinaus in Richtung Land, dachte Emily eine Weile nach, um die richtigen Worte zu finden, ihre eigenen Worte, statt wieder nur fremde Phrasen nachzuplappern.
    »Unter der Kuppel da«, sagte sie schließlich, »soll etwas entstehen, das so ist wie früher unser ›Paradies‹ in Chatsworth. Aber nicht nur für uns beide, sondern für alle Menschen. Ein Ort, wo es keinen Hass und keine Angst mehr gibt, wo jeder tun darf, was er gerne möchte, wo jeder glücklich sein kann, egal, wer er ist. Weil jeder dazugehört, ein Teil ist von diesem einen großen Paradies, das alle zusammen erschaffen haben und immer wieder neu erschaffen.« Sie sah ihn an und drückte seine Hand.
    »Sag, willst du nicht mithelfen, dass dieser Traum Wirklichkeit wird?«
    Er erwiderte ihren Blick, ohne sich zu wehren, weder gegen ihre Worte noch gegen ihre Berührung. Hatte sie ihn überzeugt? Sie glaubte zu spüren, dass auch er ihre Hand drückte.
    »Sag doch einfach ja«, flüsterte sie. »Wir haben doch früher auch alles zusammen gemacht, du und ich, wir haben immer zusammengehalten, egal, was passierte.«
    Er wandte sich ab und blickte wieder in die Fahrtrichtung des Ballons.
    »Ich glaube, wir steigen immer noch«, sagte er, statt ihr eine Antwort zu geben.
    »Meinst du?«, fragte sie. »Ich kann es nicht mehr unterscheiden.«
    Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen und schwebten jetzt über freiem Feld. Die umgepflügten Äcker sahen aus wie braune Tischlaken, und die Schiffe auf der Themse bewegten sich wie Insekten auf dem Wasser. Entlang des Flusses fuhr eine Eisenbahn und stieß kleine weiße Wölkchen aus, wie Dampf aus einem Teekessel.
    »Ich habe eine Idee«, sagte Victor.
    Er kramte ein Stück Papier aus der Tasche, riss es mehrmals entzwei und warf die Schnipsel in die Luft. In langsamen Kreisen trudelten sie zur Erde herab.
    Emily begriff. »Tatsächlich, wir steigen immer noch. Was sollen wir tun?«
    »Hast du eben nicht was von einem Ventil gesagt?«
    Sie griff nach der Leine, die Mr. Green ihr gezeigt hatte, und zog vorsichtig daran. Zischend entwich das Gas aus dem Ballon.
    »Das muss es sein!«, rief Victor.
    Emily zog nun beherzter an der Leine, ein zweites, ein drittes Mal, und jedes Mal zischte es ein bisschen länger.
    »Versuch’s jetzt nochmal!«
    Wieder warf Victor Papierschnipsel aus der Kanzel, doch diesmal schwebten sie in die Höhe.
    »Gott sei Dank!« rief Emily. »Wir sinken!«
    Als sie wenige Minuten später auf eine Wiese herabschwebten, kamen Bauern und Kinder angerannt, um sie zu empfangen. Winkend und schreiend versuchten sie die Halteleinen zu fangen, die Victor ihnen zuwarf. Ein junger Mann bekam als Erster ein Seil zu fassen. Ein Ruck, dann ein zweiter, und rumpelnd landete die Gondel am Boden.
    »Emily! Miss Emily!«
    Sie kletterte gerade aus dem Korb, als sie ihren Namen hörte. Eine Droschke hielt neben dem Luftschiff. Cole sprang heraus und nahm sie in den Arm.
    »Was bin ich froh, dass Ihnen nichts passiert ist!«
    Er drückte sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Emily war glücklich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, doch die überschwängliche Zärtlichkeit ihres Verlobten war ihr peinlich.
    »Mr. Cole, man kann uns sehen.« Behutsam machte sie sich aus seiner Umarmung frei. »Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen meinen Retter vorstelle?«
    Sie wandte sich wieder zur Gondel herum. Doch Victor war bereits verschwunden.

9
     
    Kaum ein Laut störte die friedliche Stille in der Bibliothek des Athenaeum-Clubs. Nur das Knistern des Kaminfeuers war zu hören, und ab und zu das Rascheln einer Zeitung.
    »Ihr Tee, Sir.«
    Joseph Paxton ließ die
Times
sinken und rückte ein wenig beiseite, damit der Butler die Tasse neben seinem Ohrensessel abstellen konnte. Außer ihm saß nur noch Sir Lindsey mit ihm am Kamin, ein steinalter Junggeselle, von dem es hieß, dass er manchmal junge Schauspieler vom Vic-Theater besuchte. Er hatte

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