Die Rebellin
das Messer an ihren Hals. »Wenn du willst, dass ihr nichts passiert, solltest du tun, was ich sage.«
Victor machte einen Schritt auf ihn zu. »Was willst du von mir, Robert?«
»Als Erstes möchte ich, dass du die Dampfleitung wieder aufdrehst. Ich habe nämlich keine Lust, in die Luft zu fliegen.«
Eine kleine, aberwitzige Hoffnung flackerte in Emily auf. Konnte es sein, dass Robert auf ihrer Seite war? Offenbar war er in Victors Plan eingeweiht, aber vielleicht hatte er es sich im letzten Moment anders überlegt und wollte jetzt die Katastrophe verhindern, genauso wie sie selbst.
»Bitte«, flüsterte sie, »tu, was er sagt.«
Victor zögerte immer noch, Roberts Befehl auszuführen. Emily konnte vor Anspannung kaum atmen. Der Stahl an ihrem Hals war kalt wie Eis.
»Na, wird’s bald?«
Ein kurzer scharfer Schmerz durchzuckte Emily – das Messer hatte ihre Haut geritzt. Jähzorn sprühte aus Victors Augen, für eine Sekunde sah er aus, als wolle er sich auf Robert stürzen. Doch dann beherrschte er sich und kehrte zu der Kesselanlage zurück. Gott sei Dank, endlich drehte er das Rad auf. Während Emily fühlte, wie ein feiner Streifen Blut an ihrem Hals herabrann, blickte sie auf das Manometer. Kaum strömte der Dampf durch die Leitung, zuckte der Zeiger ein Stückchen vom Anschlag zurück.
»Na also«, sagte Robert. »Jetzt können wir in Ruhe weitermachen.« Er griff in seine Jackentasche und warf Victor einen Schlüssel zu. »Hier, schließ meinen Spind auf.«
Obwohl sie vor Angst zitterte, atmete Emily auf. Victor fing den Schlüssel in der Luft und ging zu den Eisenschränken, die an der Seitenwand des Raumes in einer Reihe standen.
»Na, kommt dir da drin vielleicht was bekannt vor?«, riefRobert, als Victor eine der Türen öffnete. »Los, bring das gute Stück her! Aber vorsichtig, sonst fällt es noch hin und geht kaputt! Wäre schade.«
»Woher hast du das?«, fragte Victor und nahm einen in Putzwolle eingewickelten Behälter aus dem Spind.
»Dreimal darfst du raten, du hast mir das Versteck doch selbst gezeigt.« Robert lachte. »Ich dachte, wir machen das jetzt mal nach meiner Methode. Die ist vielleicht nicht so heldenhaft wie deine, aber dafür umso wirkungsvoller. Vorwärts, bring unser Schätzchen her. Wir haben nicht ewig Zeit.«
So behutsam, als hätte er einen Säugling auf dem Arm, trug Victor den Behälter an seiner Brust. Emily verstand überhaupt nicht mehr, was hier geschah. Sie hatte nur noch Angst.
»Auf Birdies Platz damit«, sagte Robert und wies mit dem Kinn auf ein Stehpult in der Mitte des Raums.
»Was ist da drin?«, fragte Emily.
»Willst du das wirklich wissen, Süße?«, fragte Robert. »Na schön, weil Victor so artig tut, was man ihm sagt. In der Kapsel ist Sägemehl. Und ein kleines bisschen Nitroglyzerin.«
»Nitroglyzerin?«
»Ja, so heißt der Fachausdruck. Mit dem Sägemehl zusammen nennt man es auch Sprengstoff. Schon mal davon gehört? Wenn nicht, frag mal deinen Vater, Süße, ich glaube, er weiß Bescheid. Meine Freunde und ich haben das Zeug mal an einem von seinen Zügen ausprobiert. Du bist doch Miss Paxton, nicht wahr?«
Emily zitterte plötzlich am ganzen Leib, und ihre Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass sie unfähig war, auch nur ein Wort hervorzubringen.
»Na, na, na, wer wird denn solche Angst haben? Uns kann nichts passieren, dafür wird dein Liebster gleich sorgen. Los, Victor, leg unser Schätzchen auf das Pult und hol den Zünder.«
»Was … was haben Sie vor?«, fragte Emily, als Victor ein kleines schwarzes Kästchen aus dem Spind nahm und damit zum Pult zurückkehrte.
»Willst du es ihr selber sagen, mein Freund?«, fragte Robert.
»Ich glaube, du hast es schon begriffen. Oder nein, besser nicht, du musst dich ja konzentrieren. Also, Süße, in dem kleinen Kästchen da ist Phosphor, und der beginnt zu brennen, wenn Luft drankommt. Darum ist der Deckel fest verschlossen – im Moment jedenfalls. Aber siehst du die Schnur, die daraus hervorschaut? Die verbindet dein Liebster jetzt mit dem Sprengstoff. Sieh nur, wie gut er das macht, genauso, wie ich es ihm beigebracht habe. Sobald er damit fertig ist, bringen wir unser Schätzchen zum Schlafen ins Bett, direkt unter dem Kessel, wo es so richtig schön warm ist. Dann brauchen wir nur noch den Deckel abzuheben, damit gute, frische Luft an den Phosphor gelangt, und während wir uns gemütlich davonmachen, wacht unser Schätzchen ganz langsam auf. Und irgendwann, wenn wir
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